Auf dem hohen Berg. Stefan König
er sich genauer umsah und sich nach und nach heimisch machte, so gut es ging.
Nur zwei Schritte vom Herd entfernt stand ein kleiner Tisch samt an die Wand gelehnter Bank und einem Stuhl – da hätten drei Leute Platz gehabt, aber es war nicht anzunehmen, dass er Besuch bekäme, zumindest nicht, bevor der Winter zu Ende wäre. An diesem Tisch also würde er von nun an seine Mahlzeiten zu sich nehmen, seinen Tee trinken, lesen, vielleicht seine persönlichen Aufzeichnungen niederschreiben. Dieser Tisch wäre der Mittelpunkt seines Lebens in dieser kleinen Stube. An der Wand über dem Tisch war ein Bord befestigt – man musste direkt Obacht geben, sich beim Hinsetzen oder Aufstehen den Kopf nicht anzustoßen –, und auf diesem Bord fanden sich, in einiger Schräglage und Unordnung, Bücher und zerlesene Schriften. Darüber würde er sich vielleicht am Abend ein besseres Bild machen, und wenn nicht an diesem Abend, dann am nächsten oder übernächsten.
Zunächst bedurfte es eines guten Platzes für sein kleines Grammophon und die Schelllackplatten. Hatte er das Geschenk fast nicht annehmen wollen, gar geglaubt, etwas Derartiges nicht zu benötigen, war ihm jetzt bewusst, dass die Musik ihm zum Freund werden würde.
Eine winzige Kommode gleich neben der Bank erschien ihm als der beste Platz. So konnte er das Grammophon bedienen, wenn er am Tisch saß, brauchte sich gar nicht zu erheben, um ein neues Musikstück aufzulegen.
Vorsichtig, geradezu liebevoll klappte er den Deckel des Gerätes auf, drehte den kleinen Trichter zum Raum hin und setzte die Kurbel ein. Aber er verkniff es sich, jetzt, am Vormittag, eine Platte aufzulegen und den Mechanismus in Gang zu setzen. Er klemmte die Platten, die in weißen, papiernen Hüllen steckten, hinter die Musikmaschine, besah sich dabei jede Einzelne und freute sich ganz besonders darauf, den italienischen Tenor Caruso mit der Arie »Celeste Aida« zu hören. Später.
Den Tee, stark und mit wenig Zucker, trank er draußen, vor seinem Turm. Ein paar Dohlen waren oben auf dem Geländer der Aussichtsplattform und in den nahen Felsen gehockt und flogen nun heran und hüpften um ihn herum, darauf spekulierend, vom neuen Wetterwart ein paar Bröckchen zugeworfen zu bekommen. Aber der aß ja nichts, der trank ja nur Tee. Und freute sich über die Mitbewohner seines Gipfels.
Dohlen waren ihm von jeher sehr lieb gewesen. Auf seinen Ausflügen ins Gebirge hatte er immer wieder bestaunen können, welche Meister der Flugkunst sie waren. Mag schon sein, hatte er gedacht, dass man den Adler den König der Lüfte nennt. Majestätisch und gefährlich. Aber die Dohlen mit ihrem pechschwarzen Gefieder, mit ihren gelben Schnäbeln und karottenroten Beinchen, sie waren für ihn die wahren Beherrscher der Luft und der Thermik. Und sie zeigten das ja auch fast unablässig in ihrem übermütig erscheinenden Spiel. Sie waren Könige und Clowns in einem. Und Anselm Straub beschloss, ihnen fortan immer ein paar Krümel zu geben. Lange würden sie ja ohnehin nicht mehr auf dieser Höhe ausharren. Den Hochwinter verbringen Dohlen in abgelegenen Talregionen. Sie würden erst wieder zurückkehren, wenn die Sonne im späten Frühling am Gipfel mildere Temperaturen mit sich brächte.
Umso dankbarer konnte er sein für die Tage, an denen sie ihm noch Gesellschaft leisten würden.
Er sah sich die possierlichen Vögel genauer an. Sie hüpften so nahe heran, dass er ihnen in die kugeligen schwarzen Knopfaugen sehen konnte. Und sie hielten dabei doch Abstand genug, dass sie vor ihm sicher waren.
An dem Morgen, dachte er, an dem sie nicht mehr da sind, wenn ich vor das Haus trete, wird der Winter anfangen.
Er verbrachte den größten Teil des Tages damit, in gewisser Unorganisiertheit sein Leben auf dem hohen Berg allmählich zu organisieren. Packte Dinge aus den Taschen und Kisten, die noch nach Maultierfell rochen. Inspizierte nach und nach den ganzen Turm – über seinem Wohnraum war da noch das Arbeitszimmer mit Messgeräten, Folianten, Karten, wissenschaftlichen Tagebüchern, und von diesem Arbeitsraum führte eine steile Stiege zu einer Luke, die den Aufgang zur Aussichtsplattform vermittelte. Dort oben zu stehen bedeutete, noch einen Meter höher zu sein als die höchsten Felsen des Gipfels. Im Umkreis von vielen Kilometern war nichts und niemand höher als diese Plattform, auf der Straub jetzt stand, auf der er von nun an fast täglich stehen würde.
Mittels der Gebirgskarte verschaffte er sich einen besseren Überblick. In ihr waren die Entfernungen zwischen seiner Warte und den verschiedenen markanten Gipfeln der Ostschweiz, der vergletscherten Zentralalpen, der Dolomiten und der Hohen Tauern genauso verzeichnet wie die Distanzen zu den oberbayerischen Seen und zu den dunklen Säumen von Schwarzwald und Bayerischem Wald.
Freilich, viele der verzeichneten Berge kannte er dem Namen nach und manche auch von ihrer Gestalt. Doch mindestens ebenso viele waren ihm noch fremd, und er würde erst lernen müssen, sie in der Natur zu entdecken. Denn anhand ihrer Entfernungen waren zweimal täglich auch die Sichtweiten von der Zugspitze aus durchzugeben. Reichte der Blick also beispielsweise bis zum Hochvogel im Allgäu, dann konnte von einer Sichtweite von etwa 52 Kilometern gesprochen werden, sah er den Säntis, der sich über dem jungen Rhein erhob, dann waren es sage und schreibe 120 Kilometer.
Sein Vorgänger als Wetterwart hatte ihm am Vortage alles Wesentliche gezeigt, war mit ihm die verschiedenen Anforderungen durchgegangen, hatte ihn eingewiesen in die Praxis dessen, was er von der Theorie her natürlich schon bestens kannte. Doch jetzt war er auf sich gestellt, und das war doch ganz etwas anderes.
Im Arbeitszimmer hing gerahmt zwischen Karten eine Seite aus den »Münchner Neueste Nachrichten« an der Wand. Das leicht angegilbte Blatt stammte vom Februar 1901, war »Sieben Monate auf der Zugspitze« überschrieben und verfasst vom ersten Zugspitz-Wetterwart Enzensperger, der seinen Aufenthalt hier heroben um nur zwei Jahre überlebt hatte. 1903 war er, ein abenteuerfreudiger Alpinist und Reisender, bei einer Forschungsexpedition in der Antarktis gestorben. Er nahm sich vor, diesen Bericht bald zu lesen, aber nicht jetzt, nicht in den Stunden des Nachmittags, an dem er erstmals ganz alleine die Wetterdaten zu ermitteln und durchzugeben hatte. Unruhig trat er immer wieder vor die Tür, um zu sehen, ob sich die Bewölkung in Farbe und Dichte veränderte, ob die Sichtverhältnisse besser wurden oder sich verschlechterten, er prüfte die Luftfeuchtigkeit, den Luftdruck, die Windrichtung. Und immer hielt er dabei auch Ausschau nach den Dohlen, ob sie noch da waren.
Im unteren Geschoss schlichtete er das neu heraufgebrachte Holz zu den anderen Scheiten, er räumte die Briketts auf und kehrte zusammen. Mit der scharfen Axt spaltete er dünnes Anschürholz für den Kanonenofen im Arbeitszimmer. Danach sichtete er die mitgebrachten und die schon länger gelagerten Konserven. Da waren Sülzen dabei und Gulasch, Kraut und Kürbis, gepökeltes Fleisch und gedünstete Karotten. Auf ein Gulasch hätte er Lust verspürt; Kartoffeln gab es ja auch. Aber, so dachte er sich, lieber jetzt ein wenig gegeizt mit den gut eingemachten Sachen und sie aufheben für die kalte Zeit. Von der Decke hingen zwei Schweineschultern, schwarz geräuchert, für die Mäuse unerreichbar. Ja, es gibt Mäuse, hatte der vorherige Wetterwart gemahnt, es gibt sie auch da heroben und sie fressen alles, was ihnen unterkommt. Also, Obacht!
Er entschied sich dafür, abends ein Stück vom Geräucherten zu essen, einen Ranken Brot dazu und vielleicht ein oder zwei Seidel Bier. Auch mit dem Biervorrat würde er haushalten müssen, das war ihm schon klar. Aber dem Bier maß er, anders als der Großteil der männlichen bayerischen Einwohnerschaft, keine ans Lebenswichtige grenzende Eigenschaft bei. Bisweilen schmeckte ihm eine Halbe, zur Starkbierzeit auch ein Bock und auf der Festwiese eine süffige Mass, aber dann vergingen wieder Wochen, ohne dass es ihn nach Hopfen und Malz gelüstete. Und wenn kein Bier mehr da wäre, so würde er nicht groß daran leiden. Verdursten würde er sicher nicht: Das Wasser, das er brauchte, kam als Schnee vom Himmel. Und der Schnee würde meterhoch fallen …
Um vier Uhr am Nachmittag, eine Stunde vor dem Zeitpunkt, da er seine Messdaten ganz offiziell durchzugeben hatte, telefonierte er nach München. Er wollte ganz sicher gehen, dass Verbindung bestand.
Der Kollege im Institut – es war Gstatter, der Dienst tat, und den Straub recht gut kannte – wollte nur zu gerne wissen, wie es ihm da oben so erginge und ob er sich schon eingelebt habe und wie das wohl auszuhalten wäre, so ganz ohne, er wäre doch schließlich verlobt.
»Es ist alles noch fremd für mich«, sagte Straub. »Ungewohnt, wenn du verstehst, was ich meine. Ich weiß noch nicht so recht, ob ich besorgt sein soll wegen des einsamen