Auf dem hohen Berg. Stefan König
dieser Nacht auf der Zugspitze war er voller Angst. Er stellte sich vor, wie der Orkan seinen Turm aus den Verankerungen riss und ihn über sechshundert Höhenmeter auf den Höllenthalferner hinabstürzen würde. Er hörte das Geschirr in den Schränken klappern und konnte geradezu körperlich spüren, dass dieser Sturm versuchte, die Läden an den kleinen Fenstern aus ihren Scharnieren zu reißen.
Straub war nie ein frommer Mensch gewesen, sonst hätte er vielleicht den Blick zum kleinen Kruzifix gerichtet, das im Eck über seinem Esstisch hing und vom flackernden Licht beleuchtet wurde. Er hielt nicht viel von Kirche und Glauben; was er glaubte war, dass die Welt mit der Wissenschaft zur Gänze zu erklären sei. Und dass alles andere, zumindest fast alles andere, Romantik und Märchenzauber wäre.
Doch die Angst war da. War riesengroß. Gewaltig wie die Wolken am frühen Abend. Aus einem der Schränkchen, worin Töpfe, Geschirr und Gewürze lagerten, holte er sich die Rumflasche und trank mindestens so viel, wie in eine Tasse gepasst hätte. So wurde der Sturm leiser und nach und nach verlor er tatsächlich an Bedrohlichkeit.
Er schlief dennoch unruhig, wälzte sich hin und her, träumte wirres Zeug – das Schellen des Telefons am frühen Morgen war eine Erlösung. Er vertröstete den Kollegen um eine Viertelstunde. Dick eingepackt ging er hinaus, um die Wetterwerte erst einmal im Augenschein zu prüfen. Und er war mehr als erstaunt über die völlige Windstille, die jetzt herrschte. Nichts regte sich. Das Gebirge lag da in völliger Lautlosigkeit. Im Osten zeigte sich ein erster heller Schimmer. Und über ihm und im Westen standen die Sterne am Himmel.
Noch hielt der Föhn, der in der Nacht so gewütet hatte, den Winter um ein paar Stunden auf. Aber wenn der Föhn dann zusammenbrechen würde, käme der große Wettersturz. Das stand ganz außer Zweifel. Es war eine Frage von Tagen, vielleicht auch nur noch Stunden. Er wusste es, und wenn er es nicht gewusst hätte, so hätte er es im Urin gespürt. Ganz sicher.
An diesem Morgen war Lidia von Berneis sehr zeitig auf. Sie hatte bereits am Vortag ihr großes Gepäck aufgeben lassen; in Dresden würde alles vom Bahnhof abgeholt werden.
Sie hatte sich von den Schafflers schon am Vorabend verabschiedet und dabei versprochen, im nächsten Frühsommer wieder ins Haus Alpenblick zu kommen. Die Betreiber der Pension hatten es sich aber nicht nehmen lassen, die »liebe Frau von Berneis« nach frühem Frühstück noch einmal in aller Form und mit herzlicher Rührung zu verabschieden. Karl Schaffler selbst brachte sie, nachdem er ihr eine wunderbar weiche und warme Decke umgelegt hatte, mit seinem Einspänner zum Bahnhof.
Dieser Schaffler war ein guter Geschäftsmann, hatte es im Leben zu einigem Erfolg gebracht, was gewiss auch daran lag, dass er die Schliche von Lieferanten durchschaute, dass er niemandem leicht auf den Leim ging. Nur: Auf Frauen verstand er sich nicht besonders. Und so war er kein bisschen verwundert darüber, dass die vorzüglich gekleidete Frau von Berneis einen Koffer mit sich führte, den sie dann beim mehrmaligen Umsteigen zumindest so weit selbst zu tragen hätte, bis ein Dienstmann ihr gegen kleines Entgelt die unbequeme Last abnehmen würde. Auch glaubte er ihr, dass sie die nagelbeschlagenen Bergstiefel, die sie an den Schuhbändern zusammengeknüpft hatte und einfach so mit sich trug, in München, wo sie zwei Stunden Aufenthalt haben würde, bei der altrenommierten Schuhmacherei E. Rid & Sohn in der Fürstenstraße zur Nachbesserung der Nähte vorbeibringen wollte.
Dass sie den Zug nach Murnau und weiter nach München gar nicht erst besteigen würde, dass sie nur darauf wartete, Schafflers Gefährt am Bahnhofsvorplatz wenden und davonfahren zu sehen, ehe sie sich im Waschraum der Station in eine zünftige Hochtouristin verwandeln wür-
de – das wäre ihm, dem grundguten Pensionsbetreiber, nicht im Traume eingefallen.
Als eineinhalb Stunden später beim Bahnhofsvorstand zu Garmisch ein feiner Reisekoffer abgegeben wurde, dessen Inhalt aus einem Rock, einer Bluse, einer Weste sowie Damenstrümpfen, Korsett, Handschuhen, Schuhen und einem Hütchen bestand, war Lidia längst aus dem Ort geschlichen, war an der Partnach entlang gewandert – einen Weg, den sie schon kannte – und dann mutig und völlig allein auf dem Steig, der ausgesetzt die Vordere Klamm durchzog, hinein ins Gebirge.
Sie war so voller Freude. Der Tag war so schön. Nachts hatte es gestürmt. Aber der Sturm hatte alle Wolken vertrieben und den Himmel blau gefegt. Der Morgen war mild, sehr mild für die Jahreszeit. Und außerdem konnte sie sich auf geradezu mädchenhafte Art daran ergötzen, dass ihr das Schelmenstück am Bahnhof so problemlos gelungen war. Jetzt trug sie zu den Nagelschuhen feste Strümpfe, die bis übers Knie reichten, unter dem Lodenrock eine Pumphose, einen gestrickten Pullover und eine Weste aus Jägerleinen. Bis auf die Stiefel war all das und dazu noch der erdfarbene Rucksack im Koffer versteckt gewesen. Auch eine Feldflasche, zwei Scheiben Brot, die sie beim Frühstück abgezweigt hatte sowie zwei Äpfel und eine Birne.
In der Klamm aber überkam sie dann doch ein Gefühl der Unsicherheit und der Besorgnis. Der zum Teil in den Fels gehauene oder mit Balken das tosende Wasser überspannende Weg war auch wirklich dazu angetan, düstere Gedanken aufkommen zu lassen: Bestimmt hundert Meter tief hatte sich hier der Wildbach in das Gestein gefressen. An Stellen, wo sie stehen bleiben und hochschauen konnte, führten nasse, lotrechte, sich nach oben noch verengende Felswände einem schmalen Streifen Himmel entgegen. Das Wasser prasselte hernieder, in rauschenden Kaskaden und in dünnen Tropfenfäden, es rauschte und rann, es wütete und es plätscherte, Moose und Flechten strotzten vor Nässe.
Sie hätte die Klamm auch umgehen und den Weg über die Partnachalm nehmen können oder, etwas umständlicher, übers Graseck. Aber sie wollte es so. Würde sie sich nicht abschrecken lassen von dieser düsteren, feuchten, um diese frühe Stunde besonderes kalt und bedrohlich wirkenden Engstelle auf dem Weg hinauf zur Zugspitze, dann gäbe es wohl nicht mehr viel, was sie von ihrem Vorhaben noch abhalten konnte.
Dunkel waren die in den Fels gehauenen Gänge, und ständig tropfte es in ihr zurückgestecktes Haar, ins Gesicht und manchmal auch in den engen Kragen, von wo es den Nacken hinunterrann und sie schütteln machte. Wie war sie froh, als die Schlucht, in der die Partnach so furchterregend gegen die Felsen schlug, langsam breiter wurde, als mehr Licht einfiel, die steilen Felswände zurücktraten und dort, wo die Landschaft sich schließlich weitete, auch der Wildbach einen vergleichsweise ruhigen Lauf nahm, Harmlosigkeit vorgaukelte.
Sie machte eine kurze Rast, aß die Hälfte von einem ihrer Äpfel und war ein wenig darüber verwundert, dass sie sich beim ersten Mal, da sie durch die Klamm gegangen war – damals aber in Begleitung ihres Gemahls und eines Partenkircher Führers – so gar nicht gefürchtet hatte, diesmal aber doch sehr.
Beim Rückweg, das nahm sie sich jetzt ganz fest vor, würde sie die Partnachklamm meiden.
Aber das Weitere konnte sie in der Tat jetzt nicht schrecken. Nicht, dass noch fast zweitausend Höhenmeter zu bewältigen waren, nicht, dass es noch viele Kilometer bis zum Ende des Reinthales waren, wo dann erst der steile Aufstieg begann, und auch nicht, dass Heinrich Schwaigers »Führer durch das Wetterstein-Gebirge«, den sie sich in der neuesten, 1901 erschienenen Auflage beim Partenkircher Buchhändler besorgt hatte, für den gesamten Anstieg zum Gipfel zehn Gehstunden veranschlagte. Wie hätten zehn Stunden auch schrecken können in Anbetracht Schwaigers euphorischer Beschreibung der Aussicht vom kreuzbestückten Zugspitzgipfel?
»Die Aussicht, insbesondere vom Ostgipfel, von dem man auch das Höllenthal mit dem zerklüfteten Ferner und den Blassenkamm überblickt, ist eine der großartigsten und lohnendsten in den nördlichen Alpen. Sie erstreckt sich von den Höhen des Donauthales bis zum Ortler und der Berninagruppe, vom Salzkammergut bis in die Ostschweiz zum Tödi. Im Westen und Südwesten übersieht man die Felshörner der Lechthaler und Allgäuer Alpen, unter denen insbesondere der Hochvogel hervortritt, nach Norden zu jenseits des Ammer- und Esterngebirges die schwäbische und oberbayerische Hochebene mit den Spiegeln des Ammer- und Würmsees; im Osten ragen die Spitzen des Karwendels hervor; den Glanzpunkt der Rundschau bilden aber im Süden die Firnhäupter der Centralalpen, von den Tauern angefangen bis in die Schweiz, besonders hervorragend die Oetzthaler- und Stubaiergruppe …«
So wanderte Lidia von Berneis nun taleinwärts an der Partnach entlang, angetrieben von einer schwärmerischen Begeisterung für die Natur im Allgemeinen und das Gebirge im