Auf dem hohen Berg. Stefan König

Auf dem hohen Berg - Stefan König


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eine besondere Erfahrung. Ob eher positiv oder eher negativ – das muss man erst sehen.«

      Gstatter räumte ein, dass er für eine oder zwei Wochen selbst auch gern Dienst tun würde auf dem Berg. »Aber so lange wie du … also das würde ich nicht aushalten.«

      »Ich hab den Trost«, sagte Straub, »dass ich jeden Tag zweimal mit einem von euch telefonieren kann. Und wenn ihr dann so gut seid, mir auch zu erzählen, was sonst so los ist auf der Welt, dann werde ich das schon schaffen.«

      In den folgenden Stunden befasste er sich eingehend mit den Messungen, führte jede mindestens zweimal durch, um die Fehlerquote so gering wie möglich zu halten, er bestimmte von seiner Plattform aus die Sichtweiten in der bereits aufkommenden Dämmerung, er schrieb alles in die dafür vorgesehene große Kladde und gab schließlich Daten und Fakten telefonisch an Gstatter durch. Diesmal war ihr Gespräch ganz sachlich, emotionslos.

      Sie wünschten sich einen guten Abend, Gstatter fügte an »… und eine gute Nacht« und er vergaß nicht zu erwähnen, dass nächstentags Lohmeyer da sein würde, um die Zugspitz-Ergebnisse aufzunehmen und weiter zu melden, sodass in den Zeitungen im gesamten Land das Wetter zumindest vage vorhergesagt werden konnte.

      Straub setzte sich an den kleinen Tisch, aß vom Geräucherten, trank ein paar Schlucke Bier und packte danach, als er sich die Hände mit dem warmen Wasser aus dem Ofengrandel gereinigt hatte, ein kleines Wachstuchpäckchen aus, das ihm die Kollegen vom Institut zum Abschied geschenkt hatten. »Aber ja nicht aufmachen, bevor du am Gipfel bist! Versprochen?«

      »Versprochen.«

      Das Päckchen enthielt eine kleine Sammlung sogenannter künstlerischer Aktfotografien.

      »Schweinsköpfe«, sagte Straub und musste lachen. Die Fotografien, es waren acht Stück, zeigten überwiegend etwas fülligere Frauen, die dabei waren, ihre Reize zu enthüllen oder die bereits alle Hüllen hatten fallen lassen. Eine räkelte sich bäuchlings und wie ein Säugling auf einem weißen Fell und sah dabei den Betrachter mit großen und ernsten Augen an. Eine andere war nackt bis auf die Strümpfe; sie hatte einen Fuß auf einen plüschigen Schlafzimmerhocker gestellt und war im Begriff, einen Strumpf abzurollen. Ihr Hintern war Straub zu groß und zu fleischig. Am besten gefiel ihm die mit den dunklen hochgesteckten Haaren und dem leicht anzüglichen Lächeln. Sie verbarg sich zwischen Palmblättern, tat so, als würde sie Verstecken spielen und zeigte dabei weniger als die anderen, dieses Wenige aber – eine ihrer kleinen Brüste, ein langes Bein und natürlich ihr einladendes Lächeln – war weit erotischer als bei den Damen auf den anderen »künstlerischen Aktfotografien«. Auch hatte diese Karte, im Gegensatz zu den anderen, am unteren Ende so etwas wie ein Motto stehen, einen Titel: »Komm, fang mich doch!«, stand da.

      Straub besah sich die Fotografien alle noch einmal. Dann nahm er sieben davon und warf sie in den Küchenherd. Die Versteckspielerin aber legte er in die Schublade seines kleinen Esstisches. Sie gefiel ihm.

      Kapitel 4

      Etwa eine Woche nach Straubs Ankunft auf der Station, kündete sich der Winter mit allen Vorzeichen an, die ihm zu Gebote standen. Vorzeichen, die wohl jeder Laie falsch gedeutet hätte.

      Die Temperatur auf dem Gipfel stieg mittags auf zwölf Grad Celsius, Plusgrade wohlgemerkt. An der schindelgetäfelten Außenwand des Turms staute sich die Wärme, und Straub konnte zu seinem kleinen Mittagsmahl draußen sitzen – im Unterhemd. Die Dohlen kamen angeflattert und balgten sich um ein paar Krümel von Straubs Brot.

      Er genoss den Blick auf den weiten weißen Schneeferner. Und wenn er aufstand und einmal am Münchner Haus entlangging, bis die Ausschau nach Norden frei wurde, dann sah er über den spaltendurchfurchten Höllenthalferner und das gleichnamige Tal hinaus in die voralpine Landschaft, wo sich die Berge im flacheren Land auswellten wie das Meer an einem Strand.

      Bis um zwei Uhr war der Himmel völlig wolkenlos, und die Sicht reichte bis zu den Dolomiten. Die Luft war seidig weich, der Himmel so klar – alles in allem kein gutes Zeichen zu dieser vorgeschrittenen Jahreszeit.

      Am späteren Nachmittag legte der Himmel einen zarten Schleier an. Nun trug er einen wässrigen Grauton, durch den jedoch das Blau immer noch zart durchschimmerte. Und dann kam Wind auf, der sich innerhalb einer Stunde zu einem gehörigen Sturm steigerte.

      Straub hatte sich fast schon mit dem Gedanken angefreundet, dass es in diesem Jahr vielleicht gar keinen richtigen Winter geben würde. Dass der Herbst sich halten würde bis Januar – und dann gleich ein ganz frühes Frühjahr einsetzte. Er hätte nichts dagegen gehabt. Den Wetterstatistiken zufolge hatte es diese Spitzen nach oben wie nach unten in den letzten hundert Jahren immer einmal gegeben: Sommer, die besonders verregnet, Winter die besonders schneearm waren. Ausgesprochen kalte Augustwochen, unerklärlich warme Januars und Februars. Aber die Erfahrungswerte besagten doch, dass in der Regel Schnee das letzte Laub von den kahl werdenden Bäumen schüttelte, dass also auf den Herbst der Winter folgte, und dass so ein Winter in diesen Breiten fast ein halbes Jahr lang dauern konnte, bisweilen sogar länger.

      Zum Abend hin entwickelte sich der Sturm zum Orkan. Wenn Straub vor die Tür trat, musste er sich festhalten, damit er nicht einfach umgeweht wurde. Die Wolken, die sich allmählich gebildet hatten, um dann als immer gewaltigere Wogen aus dem Westen daherzukommen, wurden über die Gipfel hinweggefegt. Sie lösten sich auf und formierten sich neu. Im Licht des abnehmenden Mondes, der mal vernebelt, mal ganz dominant am Himmel stand, wurde dieses Wetter zum grandiosen und zugleich furchteinflößenden Schauspiel.

      Ein Föhnsturm, der ungehindert über den Gipfel jagte, der an der Station rüttelte, dass die Balken nur so ächzten, der gegen das Haus schlug und es zum Erzittern brachte, der in den Kamin fuhr und den Rauch beißend in die Räume drängte. Und der den Wetterwart Anselm Straub die ganze Nacht lang kein Auge zumachen ließ. Es erging ihm wie einem Kapitän auf stürmischer See, der nur hoffen konnte, dass sein Schiff den Kurs halten und wenn schon nicht den Kurs halten konnte, so doch we­nig­stens nicht auseinanderbrach.

      In diesen Stunden, allein auf dem hohen Berg, zweifelte er daran, dass es eine gute Entscheidung gewesen war, sich in eine solche Wildnis zu begeben. Er hatte immer über den Winter nachgedacht und sich gesagt, dass ihm die Kälte nicht so viel ausmachen würde. Er hatte sich gefragt, wie er mit dem Alleinsein zurechtkommen könnte. Und die Antwort war, dass ihm die Zeit allein mit sich selbst bestimmt ganz guttäte, bevor er eine Familie gründen und Kinder in die Welt setzen wollte. Über die Gewalt der Stürme und darüber, dass er Stürme nicht gut ertrug, hatte er vor sich keine Rechenschaft abgegeben. Dabei wäre es so naheliegend gewesen …

      Er wusste ja genau, woher seine Angst rührte, wie sie aufgekommen war und sich in ihm festgesetzt hatte.

      Vier oder fünf Jahre musste er gewesen sein, damals. Er war an der Hand seiner Mutter in der Stadt spazieren gegangen. Wahrscheinlich hatte er nicht gewusst, dass es sich um die Ludwigstraße unweit des Odeonsplatzes handelte, wo alles geschah, was ihn so verstörte. Sicher hatte er es nicht gewusst, nicht wissen können. Dieses Wissen hatte sich nach und nach hinzuaddiert. Sie waren aus dem Hofgarten gekommen, waren vorbeigegangen am Café Putscher, und er glaubte immer noch, sich erinnern zu können an seine Freude, die vielen Kutschen und Gespanne zu sehen, die auf der breiten Prachtstraße unterwegs waren.

      »Oh, dieser schreckliche Trubel«, hatte hingegen seine Mutter gesagt und ihn noch fester an der Hand genommen.

      Und dann war es passiert: Eine plötzlich aufkommende, um eine Straßenecke fahrende Windbö hatte seiner Mutter den Hut vom Kopf gerissen. Einen Baretthut, mit Federn und seidenen Blütenblättern kunstvoll verziert. Der Hut wurde in die Luft gerissen, hochgewirbelt, stürzte in den Staub der Straße, geriet neuerlich in die Klauen des Windes, rollte hierhin, rollte nach da, wurde erneut nach oben katapultiert, um schließlich im Pferdedreck zu landen und von den Gäulen der nächsten daherkommenden Kutsche zertreten zu werden.

      In dem Moment, da der Wind den Hut fortgerissen hatte, stieß Straubs Mutter einen lauten, hellen, angstvollen Schrei aus. Nur ganz kurz. Aber doch in einer Art, die ihn, den kleinen Buben, bis ins Mark erschütterte. Der kurze Schrecken seiner Mutter übertrug sich


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