Wer macht was im Gottesdienst?. Liborius Olaf Lumma

Wer macht was im Gottesdienst? - Liborius Olaf Lumma


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Kontext handeln Menschen also in unterschiedlichen Rollen. Die Beispiele der Eltern und der Vereinsvorsitzenden zeigen, dass solche Rollen durch besondere Aufgaben oder Zuständigkeiten gekennzeichnet sind. Damit sind Pflichten und Rechte verbunden, anders gesagt: Verantwortung und Macht. Damit gehen aber auch andere Optionen verloren: Eltern dürfen ihre Kinder nicht einfach unbeaufsichtigt oder unversorgt lassen, um stattdessen die Freiheit der eigenen Lebensgestaltung zu genießen, sie dürfen ihre eigenen Kinder nicht vernachlässigen, sie dürfen sie auch nicht heiraten. Die Vereinsvorsitzende muss für das Vereinsgebaren rechtlich geradestehen, sie muss fast jederzeit erreichbar sein und notwendige Unterschriften fristgemäß leisten. Verantwortung und Macht bedeuten also immer auch den Verlust von Freiheiten. In dem Moment, in dem auf der Jahreshauptversammlung die Entlastung des Vorstands ansteht, geht die Macht und die Verantwortung schlagartig auf die anderen Vereinsmitglieder über. Die Vorsitzende ist jetzt machtlos, sie hat kein Stimmrecht und ist dem Urteil der versammelten Mitglieder unterworfen.

       Aufeinander bezogene liturgische Rollen

      Ich möchte die Rollen in der katholischen Liturgie so erschließen, dass deutlich wird, wie diese Rollen aufeinander und auf das Ritual insgesamt bezogen sind. Jede Rolle erhält ihre Bedeutung erst in Beziehung zu anderen Rollen. In Bezug auf seine Kinder ist Herr Schmidt Vater, in Bezug auf seine Eltern ist er Sohn, in Bezug auf seine Hausärztin ist er Patient, in Bezug auf seinen Tennisklub ist er vielleicht Geschäftsführer, in Bezug auf seine Firma ist er Buchhalter, Arbeitskollege, Vorgesetzter, Empfänger von Dienstanweisungen und vieles mehr.

      In der katholischen Liturgie lassen sich Konstellationen finden, die der Entlastung des Vereinsvorstands nicht unähnlich sind: Wer auf den ersten Blick viel Macht hat, ist auf den zweiten Blick plötzlich machtlos. Wer auf den ersten Blick nur Mitläufer ist, trägt auf den zweiten Blick hohe Verantwortung. Verantwortung und Macht sind in der katholischen Liturgie jedenfalls keine Einbahnstraße, auch wenn das zugegebenermaßen nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen ist.

       Liturgische Rolle und kirchliche Macht

      Eine Umfrage würde vermutlich Folgendes zutage fördern: Die meisten Katholiken (und erst recht die „nichteingeweihten“ Gäste einer katholischen Liturgie) erfahren sich im liturgischen Ritual als Zuschauer, so als gäbe es einen Gegensatz zwischen Schauspielern und Publikum. Gelegentlich wird das Publikum zwar aktiv einbezogen (durch Gesang und aufgesagte Texte), aber letztlich stehen das Ritual und die handelnden Personen wie ein fertiges Konzertprogramm bereit, ohne dass das Publikum darauf Einfluss hätte. Auch die Körperhaltung begünstigt diese Wahrnehmung: Während die handelnden Personen auf der Bühne sich hin und herbewegen und für verschiedene Handlungen ihre Plätze wechseln, sind die Zuschauer an feste Steh-, Sitz- und Knieplätze gebunden.

      So verstärkt sich der Eindruck, dass es im katholischen Gottesdienst um ein Aufeinandertreffen von Mächtigen und Machtlosen geht. Die Machtlosen haben nur zwei Optionen: entweder hingehen und das Ritual über sich ergehen lassen oder gar nicht erst hingehen. Für das Programm sind ausschließlich die Mächtigen zuständig.

      Nun ist Macht für die katholische Kirche ein Thema von höchster Relevanz. Unkontrollierte Macht sowie Missbrauch von Macht – moralische Macht, spirituelle Macht, körperliche Macht, sexuelle Macht – haben Menschen irreparabel an Leib und Seele geschädigt. Die katholische Kirche hat sich vor allem ab dem 19. Jahrhundert zu einer Meisterin darin entwickelt, Macht in den Händen einiger weniger Menschen zu bündeln. Ihre gesamte rechtliche Struktur ist auf Einzelpersonen mit hoher Autorität zugeschnitten. Auch in der aktuellen Liturgiewissenschaft stellt sich die Frage, inwieweit die Ausdrucksformen der Liturgie Machtstrukturen legitimieren und verfestigen. Aus dieser Perspektive ist es umso auffälliger, dass die katholische Kirche bestimmte Rollen – und zwar gerade die machtvollen – ausschließlich Männern zuweist, und umso größer ist der Reformdruck, der auf die Liturgie ausgeübt wird, sobald in ihr Strukturen von Macht identifiziert werden.

      Ich möchte in diesem Buch zeigen, dass liturgische Rollen, wenn man sie richtig versteht und sachgerecht ausfüllt, eigentlich viel weniger mit Macht zu tun haben als es auf den ersten Blick scheint. Einen ersten, und zwar ökumenischen Aspekt gebe ich an dieser Stelle bereits zu bedenken: Es gibt christliche Kirchen – etwa die anglikanische und die altkatholische –, die in ihrer rechtlichen Struktur anders verfasst sind als die katholische Kirche. Sie lassen Frauen zu allen kirchlichen Ämtern zu, ihre Amtsträger dürfen weitreichende Entscheidungen nur im Zusammenspiel mit synodalen (also „parlamentarischen“) Gremien treffen und einiges mehr. Dennoch kennen diese Kirchen dieselben liturgischen Rollen wie die katholische Kirche. Nimmt eine Katholikin an einem anglikanischen oder altkatholischen Gottesdienst teil, wird sie sich problemlos zurechtfinden. Die Kirchenbauten folgen denselben Grundmustern, die Handlungen in der Liturgie sind nach demselben Schema auf verschiedene Personen aufgeteilt, die Strukturelemente des Rituals stimmen weitgehend überein, sogar die vorgetragenen Bibeltexte sind an vielen Tagen miteinander identisch.

      Würde die katholische Kirche kurz nach Erscheinen dieses Buches Frauen zu allen Ämtern zulassen, würde sie auf allen Ebenen entscheidungsberechtigte Synoden einführen, würde sie kirchliche Gerichte installieren, die von Papst und Bischöfen unabhängig urteilen, so könnte dieses Buch doch bleiben, wie es ist. Dieses Buch muss erst dann aktualisiert werden, wenn sich die Liturgie der Kirche selbst ändert. Ob solche Änderungen vom Papst als mächtigster Einzelperson oder in Zukunft vielleicht von regionalen Kirchensynoden ausgehen, ist dafür unerheblich. Für die liturgische Rolle des Bischofs, des Presbyters und des Diakons ist es unerheblich, ob Bischöfe, Presbyter und Diakone männlich oder weiblich sind.

      Würden also kurz nach Erscheinen dieses Buches katholische Bischöfinnen, Presbyterinnen und Diakoninnen ihr Amt antreten, so hätten sie in der Liturgie dieselben Rollen wahrzunehmen wie ihre männlichen Pendants. Auch die für dieses Buch grundlegenden Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–65) zur Theologie der Liturgie werden ihre Gültigkeit und Verbindlichkeit behalten. In diesem Punkt darf ich mit meinem Buchmanuskript also recht entspannt in die Zukunft blicken und davon ausgehen, dass es noch für längere Zeit auf die katholische Liturgie anwendbar bleibt, selbst wenn sich in der rechtlichen Struktur der katholischen Kirche kurzfristig etwas ändern sollte.

       Liturgie und Drehbuch

      Damit ist schon ein anderes wichtiges Thema berührt: Liturgie ist geordnet. Sie folgt einem Drehbuch, das zwar nicht alle, aber doch sehr viele Einzelheiten festlegt, zum Beispiel die Abfolge der einzelnen Elemente der Eucharistiefeier, die Farben der zu tragenden Gewänder, die Texte der vorzutragenden Gebete und Bibellesungen, welche Teile des Rituals der Diakon durchführt, wie man vorgehen soll, wenn kein Diakon zur Verfügung steht, wer wann die Arme ausbreitet und Ähnliches.

      Ein solches Drehbuch heißt in der kirchlichen Sprache liturgisches Buch, wobei es liturgische Bücher mittlerweile natürlich schon längst auch in digitaler Form gibt, ganz ohne Papier und ohne Umblättern. Für die Herausgabe liturgischer Bücher ist in der katholischen Kirche in der Regel der Papst verantwortlich; so hat es das Zweite Vatikanische Konzil bestätigt. Liturgische Bücher der katholischen Kirche sind in lateinischer Sprache verfasst, z.B. das Missale Romanum für die Eucharistiefeier (Messe) oder die Liturgia Horarum für die Tagzeitenliturgie (Stundengebet). Für die Übersetzungen in unterschiedliche Volkssprachen – im Deutschen handelt es sich um das Messbuch und das Stundenbuch – und für inhaltliche Anpassungen nach dem Bedarf einzelner Länder sind die Bischöfe des jeweiligen Sprachgebietes verantwortlich, aber auch dies nur mit Zustimmung des Papstes. Die Wort-Gottes-Feier, um die es in diesem Buch ebenfalls gehen wird, ist hingegen keine vom Papst geordnete Liturgie, sie fällt von vornherein in die Zuständigkeit der Bischöfe: Auch diese Variante ist vom Konzil vorgesehen worden.

      Während die liturgischen Bücher vor dem Konzil so viele Details festlegten, dass es für die Versammelten fast gar


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