Rechtsmedizin. Ingo Wirth
Puls. Weitere Zeichen des bevorstehenden Todes sind das Schlaffwerden der Muskulatur und das Erlöschen der Nervenreflexe. Als Folgen des Ausfalls zentraler Steuerungsmechanismen können unkoordinierte Bewegungen und Lautäußerungen auftreten. Diese Begleiterscheinungen des Sterbens werden nicht selten als Todeskampf fehlgedeutet.
Bei gewaltsamen Todesfällen, wie Abtrennung des Kopfes oder Sturz aus der Höhe, kann die Agonie sehr kurz sein.
Der Agonie folgt der Individualtod, mit dem das Leben eines Menschen endet. Atem- und Herzstillstand zeigen den sog. klinischen Tod an, der nicht zwangsläufig das Lebensende bedeutet. Gelingt die rechtzeitige Wiederherstellung von Atemfunktion und Herztätigkeit durch medizinische Maßnahmen, ist eine Rückkehr vom klinischen Tod zum Leben möglich (Reanimation). Andernfalls folgt durch den Kreislaufstillstand ein irreversibles Erlöschen der Hirnfunktionen. Bedingt durch den hohen Sauerstoffbedarf der Gehirnzellen, tritt die Schädigung des Gehirns schon nach wenigen Minuten ein, während andere Organe (Herz, Leber, Bauchspeicheldrüse, Lungen, Nieren) eine längere Überlebenszeit besitzen und dadurch die Organentnahme für Transplantationen ermöglicht wird. Der vollständige und endgültige Ausfall der Hirntätigkeit ist gleichbedeutend mit dem Hirntod, der auch Individualtod genannt wird. Der Hirntod folgt dem klinischen Tod etwa 10 Minuten nach dem Kreislaufstillstand.
In Fällen einer primären Hirnschädigung (z. B. durch schwere Hirnverletzung oder spontane Blutung im Schädelinneren), die nicht sofort zum Tod führt, entwickelt sich eine fortschreitende Hirnschwellung. Der zunehmende Hirndruck führt letztlich zu einer Atemlähmung und zu einem vollständigen Stillstand der Hirndurchblutung. Lässt sich die Durchblutung nicht rechtzeitig wiederherstellen, kommt es zum Absterben des Gehirns. Die moderne Medizin ermöglicht es, auch bei abgestorbenem Gehirn Atemtätigkeit und Kreislauffunktion apparativ über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten. Aber „funktionell ist der Hirntote einem Enthaupteten gleichzusetzen“.[1] Diese Tatsache ist einem Angehörigen nicht leicht verständlich zu machen, denn er findet auf der Intensivstation einen gut durchbluteten, scheinbar atmenden Körper mit warmer Haut und fühlbarem Puls vor. Die Überwachungsgeräte zeichnen die Herztätigkeit auf und machen den Herzschlag hörbar. In einer solchen Situation entsteht irgendwann die Frage nach dem Abbruch der Behandlungsmaßnahmen, insbesondere dann, wenn sich die Organe des Hirntoten für eine Transplantation eignen. Für diese Entscheidung sind die klassischen Zeichen des Todes Atem- und Kreislaufstillstand ungeeignet. Die Feststellung des Todes basiert stattdessen auf dem zweifelsfreien Nachweis des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls (Hirntod). Der irreversible Hirnfunktionsausfall ist in diesem Zusammenhang definiert als „der endgültige, nicht behebbare Ausfall der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms nach Verfahrensregeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen“.[2]
Für die Feststellung des irreversiblen Hirnfunktionsausfalls vor Organentnahme zur Transplantation gibt es strenge Richtlinien. Gefordert werden klinische Verlaufsbeobachtungen durch verschiedene Fachärzte sowie apparative Zusatzuntersuchungen. Das Verfahren ist also an ein entsprechend ausgestattetes Krankenhaus gebunden. Der irreversible Hirnfunktionsausfall lässt sich bei der üblichen ärztlichen Leichenschau nicht feststellen.
Außerhalb der Klinik hat die Definition des Individualtodes als Hirntod praktisch keine Bedeutung. In der weitaus überwiegenden Mehrzahl basiert die ärztliche Todesfeststellung auf dem Nachweis sicherer Todeszeichen. Wenn sich keine sicheren Todeszeichen feststellen lassen, kann ein sog. Scheintod vorliegen, bei dem es sich um einen Zustand äußerster Herabsetzung aller Lebensprozesse handelt, sodass Atmung und Puls ohne apparative Hilfsmittel nicht wahrnehmbar sind. Durch geeignete Behandlungsmaßnahmen kann die Wiederbelebung gelingen.
Dem Individualtod folgt das sog. intermediäre Leben. Während dieser Phase leben Organe und Gewebe entsprechend ihrer Sauerstoffmangelempfindlichkeit unterschiedlich lange weiter. Folglich ist auch die Wiederbelebungszeit der einzelnen Organe nach Eintritt des Kreislaufstillstands unterschiedlich lang, also die Zeitdauer, innerhalb der keine irreversiblen Organschäden auftreten. Als durchschnittliche Wiederbelebungszeiten werden für das Gehirn 4 bis 6 Minuten und für das Herz 15 bis 30 Minuten angegeben. Diese Zeiten verkürzen sich bei hohen Temperaturen und können bei niedrigen Temperaturen erheblich länger sein.
An einzelnen Geweben und Zellen, die noch nicht abgestorben sind, lassen sich während eines begrenzten Zeitraums durch entsprechende Reize supravitale Reaktionen auslösen. Solche, über das Leben hinausreichenden Reaktionen können in den ersten Stunden nach dem Individualtod zur Todeszeitschätzung herangezogen werden. Bewährt hat sich beispielsweise die Prüfung der Erregbarkeit verschiedener Muskeln.
Abb. 1:
Ablauf des Sterbevorgangs, nach [7]
Das intermediäre Leben ist mit dem Absterben der letzten Körperzelle beendet. Es tritt der biologische Tod (Zelltod) ein, der auch als totaler oder absoluter Tod bezeichnet wird (Abbildung 1).
Die verschiedenen Todesbegriffe könnten zu der Ansicht führen, es gäbe mehrere Tode. Das stimmt nicht. Für jedes Lebewesen gibt es nur einen Tod. Die menschliche Existenz endet mit dem Individualtod.
Anmerkungen
Penning, R. (2006): Rechtsmedizin systematisch. 2. Aufl., Bremen–London–Boston: UNI-MED, S. 21.
Bundesärztekammer (2015): Richtlinie gemäß § 16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TPG für die Regeln zur Feststellung des Todes nach § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 TPG und die Verfahrensregeln zur Feststellung des endgültigen, nicht behebbaren Ausfalls der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG. Dt. Ärztebl. 112: A-1256.
II. Tod und Leichenuntersuchung › 2. Frühe Leichenveränderungen
2. Frühe Leichenveränderungen
Ganz allgemein sind Leichenveränderungen solche Vorgänge, die nach Eintritt des Todes in Abhängigkeit von äußeren und inneren Einflussfaktoren gesetzmäßig ablaufen. Wesentliche äußere Bedingungen sind Umgebungstemperatur, Luftfeuchtigkeit, Wind sowie Bekleidung und Bedeckung des Körpers. Als innere Faktoren wirken sich vorrangig der Ernährungszustand und die Todesursache aus.
Die frühen Leichenveränderungen sind Totenflecke (Leichenflecke, Livores mortis), Totenstarre (Leichenstarre, Rigor mortis) und Erkalten (Leichenkälte, Algor mortis). Gleichfalls kurz nach dem Tod entstehen durch Verdunstung die Vertrocknungen, die an den Augen, an den Lippen, im Genitalbereich sowie an den Finger- und Zehenspitzen zuerst zu sehen sind.
II. Tod und Leichenuntersuchung › 2. Frühe Leichenveränderungen › 2.1 Totenflecke
2.1 Totenflecke
Die Totenflecke sind nach Eintritt des Todes entstehende Hautverfärbungen. Mit dem Aufhören der Herztätigkeit kommt der Blutkreislauf zum Stillstand. Das Blut sinkt infolge der Schwerkraft in die tiefer gelegenen Körperabschnitte und führt dort zu einer Senkungsblutfülle der Gefäße (Hypostase). Die prall gefüllten und erweiterten kleinen Blutgefäße werden als grau-violette Hautverfärbungen sichtbar. Das sind die Totenflecke, die sich zuerst kleinfleckig zeigen und dann allmählich großflächig auftreten. An den Körperstellen, wo die Leiche aufliegt, werden