Verwaltungsprozessrecht. Mike Wienbracke
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Die in verwaltungsrechtlichen Klausuren anzutreffenden Aufgabenstellungen erfordern regelmäßig die Prüfung der Erfolgsaussicht eines förmliches Rechtsbehelfs (Rn. 8), sei es in Form eines Gutachtens im 1. Staatsexamen oder eines entsprechenden gerichtlichen Entscheidungs- oder anwaltlichen Klage-/Antragsentwurfs im 2. Staatsexamen. Ein förmlicher Rechtsbehelf, namentlich die im Folgenden behandelte verwaltungsgerichtliche Klage, hat dann Erfolg – und nicht nur wie die Verfassungsbeschwerde Aussicht hierauf[1] –, wenn sie zulässig (Rn. 40 ff.) und begründet (Rn. 390 ff.) ist. D.h., es müssen alle für die Entscheidung des Gerichts in der Sache erforderlichen (Sachentscheidungs-)Voraussetzungen gegeben sein und nach dem vom Gericht festgestellten Sachverhalt (Rn. 20) die Anforderungen vorliegen, an die das materielle Recht die Zuerkennung des mit der Klage geltend gemachten Anspruchs knüpft. Damit ist zugleich das Grobschema der Falllösung vorgegeben: „1. Zulässigkeit, 2. Begründetheit“.[2]
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JURIQ-Klausurtipp
Der abweichenden Auffassung,[3] die wegen § 17a Abs. 2 S. 1 GVG (i.V.m. § 173 S. 1 VwGO; Rn. 65) in einer dreistufigen Gliederung vor der „Zulässigkeit“ und der „Begründetheit“ des Rechtsschutzbegehrens noch die „Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs“ prüfen will, ist nicht zu folgen. Letztlich sollte der Streit um den zwei- oder dreistufigen Aufbau allerdings nicht überbewertet werden, scheint es in der Prüfungspraxis doch zu einer „friedlichen Koexistenz“ beider Konzepte gekommen zu sein.[4] Keinesfalls aber darf der gewählte Aufbau im Gutachten begründet werden.[5]
Anmerkungen
Hierzu Wienbracke Einführung in die Grundrechte, Rn. 573 f. Vgl. auch Schübel-Pfister JuS 2012, 420.
Zum gesamten Vorstehenden siehe Ehlers in: ders./Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht § 21 Rn. 2; Gersdorf Verwaltungsprozessrecht Rn. 1, 17, 64, 82, 99, 116, 128; Hufen Verwaltungsprozessrecht § 10 Rn. 1 ff.; Kopp/Schenke VwGO Vorb § 40 Rn. 2; Mann/Wahrendorf Verwaltungsprozessrecht § 6 Rn. 1; Schenke Verwaltungsprozessrecht Rn. 58, 62, 155. Zum infolge anderer Aufgabenstellungen mitunter gebotenen abweichenden Aufbau siehe Bull JuS 2000 778.
Einen Überblick über den Streitstand geben Fischer Jura 2003, 748 ff.; Heidebach Jura 2009, 172 ff.; Leifer JuS 2004, 956 ff.; Schübel-Pfister JuS 2017, 1078 (1079 a.E.).
Hufen Verwaltungsprozessrecht § 10 Rn. 1. Vgl. auch Schaks/Friedrich JuS 2018, 860 (861).
Vgl. Wolff in: ders./Decker, VwGO/VwVfG § 40 VwGO Rn. 10 f.
2. Teil Verwaltungsgerichtliche Klage › A. Ggf.: Auslegung bzw. Umdeutung des Klagebegehrens
A. Ggf.: Auslegung bzw. Umdeutung des Klagebegehrens
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Noch vor Behandlung der Zulässigkeitsvoraussetzungen kann es u.U. erforderlich sein, auf bestimmte prozessuale Fragestellungen (kurz) einzugehen, wozu neben der Rubrumsberichtigung u.a. die Auslegung bzw. Umdeutung des Klagebegehrens zählt.[1]
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Nach dem im Verwaltungsprozessrecht herrschenden Dispositionsgrundsatz entscheiden die Beteiligten über den Umfang des Rechtsstreits (Rn. 19). Folglich ist das Gericht an das Klagebegehren (§ 82 Abs. 1 S. 1 VwGO), d.h. an den – ggf. auszulegenden bzw. umzudeutenden – Antrag des Klägers (§ 82 Abs. 1 S. 2 VwGO), welcher den Streitgegenstand (mit-)bestimmt (Rn. 58), gebunden, vgl. § 88 Hs. 1 VwGO. Das Gericht darf dem Kläger daher weder quantitativ mehr (z.B. Verpflichtung der Behörde zum Erlass eines bestimmten Verwaltungsakts anstatt der beantragten bloßen Verbescheidung des Antrags) noch etwas anderes (aliud; z.B. Leistung statt bloße Feststellung) zusprechen als beantragt, wohl aber – bei (teilweise) unzulässiger oder unbegründeter Klage – weniger (z.B. nur Aufhebung des ablehnenden Bescheids anstelle der begehrten Verpflichtung der Behörde zum Erlass eines bestimmten Verwaltungsakts). Folge dieses Verbots, über den gestellten Antrag hinaus zu gehen (ne ultra petita) oder dem Kläger etwas anderes zuzusprechen als von diesem beantragt, ist die grundsätzliche Geltung des Verböserungsverbots (Verbot der reformatio in peius) im Verwaltungsprozess, vgl. §§ 88, 129, 141 S. 1 VwGO (Ausnahmen z.B.: Widerklage nach § 89 VwGO, Anschlussrechtsmittel nach §§ 127, 141 S. 1 VwGO). Auf eine Klage hin darf das Gericht nicht zum Nachteil des Klägers eine von diesem nicht beantragte (ungünstigere) Entscheidung treffen (z.B. Aufhebung eines Verwaltungsakts insgesamt, d.h. inkl. dessen für den Kläger günstigen Teilregelung, statt wie beantragt nur hinsichtlich des für den Kläger nachteiligen Teils).
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In der vorbezeichneten Weise gebunden ist das Gericht gem. § 88 Hs. 1 VwGO allerdings nur an das Klagebegehren (Klage- bzw. Rechtsschutzziel), so wie es sich ihm im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung aufgrund des gesamten Prozessvorbringens (inkl. Klagebegründung) darstellt, nicht aber auch an die ggf. irrtümlich falsch gewählte (Wortlaut-)Fassung der Anträge, § 88 Hs. 2 VwGO.
„Das ,Klagebegehren‘ i.S.v. § 88 VwGO ist das […] wirkliche Rechtsschutzziel“[2], dessen Ermittlung nach dieser Vorschrift Aufgabe der Verwaltungsgerichte ist.[3]
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Sofern Anhaltspunkte dafür bestehen, dass ein Rechtsbehelf eingelegt werden soll und gegen welche Maßnahme er sich richtet, ist aufgrund des verfassungsrechtlichen Gebots des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG; Rn. 9) davon auszugehen, dass der Kläger denjenigen Rechtsbehelf einlegen wollte, der ihm im konkreten Fall ein Maximum an Rechtsschutz gewährt. Liegen diese Voraussetzungen vor, so kann eine dementsprechende Auslegung (§§ 133, 157 BGB analog) bzw. Umdeutung (§ 140 BGB analog) zulässig und geboten sein (z.B. kann die ausdrückliche Anfechtung nur des Erstattungsbescheids i.S.v. § 49a Abs. 1 VwVfG zugleich die konkludente Anfechtung des zugrundeliegenden