Verwaltungsprozessrecht. Mike Wienbracke
Rn. 7, 1122 ff., 1150; Würtenberger/Heckmann Verwaltungsprozessrecht Rn. 717, 728, 733.
1. Teil Einleitung › B. Rechtsschutzgarantie
B. Rechtsschutzgarantie
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Dass dem Einzelnen, der durch die (vollziehende) öffentliche Gewalt, d.h. die Regierung oder die Verwaltung[1], in seinen subjektiven Rechten des öffentlichen (Rn. 255 ff.) oder des privaten Rechts (möglicherweise; Rn. 274 ff.) verletzt wird, der Rechtsweg offensteht, ist verfassungsrechtlich durch Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG garantiert. Diese Bestimmung geht dem aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden allgemeinen Justizgewährungsanspruch als lex specialis vor und ergänzt Art. 14 Abs. 3 S. 4 sowie Art. 34 S. 3 GG.[2] Dieses Grundrecht verlangt grundsätzlich nach einem lückenlosen, umfassenden und effektiven (Primär-)Rechtsschutz gegenüber der öffentlichen Gewalt, d.h. nach einer wirksamen Kontrolle der Verwaltung durch die staatlichen Gerichte in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht (siehe aber Rn. 415 ff., 429 ff.). M.a.W.: Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG dient dazu, „die ,Selbstherrlichkeit‚ der vollziehenden Gewalt gegenüber dem Bürger zu beseitigen.“[3]
Hinweis
Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG setzt die Existenz eines subjektiven Rechts voraus, begründet dieses aber nicht.[4] Vielmehr kann sich ein solches nur „aus einem anderen Grundrecht oder einer grundrechtsgleichen Gewährleistung ergeben, aber auch durch [einfaches] Gesetz begründet sein“[5] oder durch Vertrag oder Verwaltungsakt (Rn. 258).
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Darüber hinaus bedeutet „wirksamer Rechtsschutz“ i.S.v. Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG auch Rechtsschutz, d.h. eine verbindliche gerichtliche Entscheidung, innerhalb angemessener Zeit, vgl. ferner Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 6 Abs. 1 S. 1 und Art. 13 EMRK sowie Art. 47 Abs. 2 S. 1 EU-GrCh. Um dies sicherzustellen, hat der Gesetzgeber nicht nur Vorschriften zum einstweiligen Rechtsschutz (Rn. 487 ff.), sondern mit Wirkung vom 3.12.2011 zudem § 198 GVG erlassen. Dieser gibt i.V.m. § 173 S. 2 VwGO den Verfahrensbeteiligten im Fall einer unangemessenen (Gesamt-)Dauer eines Gerichtsverfahrens „von der Einleitung bis zum rechtskräftigen Abschluss“[6] in Abs. 3 das (präventive) Instrument der Verzögerungsrüge und in Abs. 1, 2 einen kompensatorischen Entschädigungsanspruch als „staatshaftungsrechtliche[n] Anspruch sui generis“[7] an die Hand; zum vorbeugenden Rechtsschutz siehe Rn. 182, 197 ff.
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Nicht in Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG verbürgt ist demgegenüber ein Anspruch auf mehr als eine Instanz („Rechtsschutz durch den Richter, nicht aber gegen den Richter“[8]). Allein die in Art. 95 Abs. 1 GG abschließend aufgezählten Gerichte – und damit u.a. das dort genannte BVerwG – müssen errichtet werden, vgl. ferner Art. 92 GG: „Gerichte der Länder“. Andererseits steht Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG der einfach-gesetzlichen Errichtung eines mehrstufigen Aufbaus der Verwaltungsgerichtsbarkeit freilich auch nicht entgegen (Rn. 12 ff.).
Anmerkungen
D.h. die Exekutive (BVerfGE 112, 185 [207] m.w.N.), nicht dagegen auch die Judikative oder die Legislative, siehe BVerfGE 45, 297 (334); 107, 395 (403 f.).
Hierzu sowie zum gesamten Folgenden siehe BVerfGE 93, 1; EGMR NJW 2006, 2389; 2010, 3355; NVwZ 2013, 47; Hufen Verwaltungsprozessrecht § 1 Rn. 18 ff., § 2 Rn. 2 ff., § 4 Rn. 1 f., § 11 Rn. 7 f.; Jarass in: ders./Pieroth, GG Art. 19 Rn. 32, 34, 36, 42, 49 ff., 55 ff., 73; Remmert Jura 2014, 906; Schenke Verwaltungsprozessrecht Rn. 32; Voßkuhle/Kaiser JuS 2014, 312 ff.; Würtenberger/Heckmann Verwaltungsprozessrecht Rn. 3, 40 f., 559.
BVerfG NVwZ 2009, 240 (241) m.w.N.
Kopp/Schenke VwGO § 42 Rn. 136 m.w.N.
BVerfGE 113, 273 (310).
BVerwG NJW 2014, 96 (98).
BR-Drucks. 540/10, S. 25. Zuvor kam als Anspruchsgrundlage allenfalls § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG in Betracht, vgl. etwa BVerfG NJW 2013, 3630.
BVerfGE 107, 395 (403) m.w.N.
1. Teil Einleitung › C. Gerichtsaufbau
C. Gerichtsaufbau
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Die nähere Ausgestaltung des von Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG geforderten Rechtsschutzes (Rn. 9 ff.) ist Aufgabe des (Bundes-[1])Gesetzgebers, welcher er namentlich mit der VwGO nachgekommen ist.[2] Gemäß deren § 1 wird die Verwaltungsgerichtsbarkeit durch unabhängige, von den Verwaltungsbehörden getrennte Gerichte ausgeübt, vgl. auch Art. 97 Abs. 1 GG. Diese Gerichte sind in den Ländern die Verwaltungsgerichte (VG) und je ein Oberverwaltungsgericht (OVG) bzw. Verwaltungsgerichtshof (VGH)[3] sowie im Bund das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) mit Sitz in Leipzig, § 2 VwGO (Rn. 55). Aufgrund seiner sachlichen Unabhängigkeit ist der Richter nicht verpflichtet, bei der Auslegung der jeweils herrschenden Meinung zu folgen; an die höchstrichterliche Rechtsprechung sind die Instanzgerichte grundsätzlich nur im Rahmen der §§ 121, 130 Abs. 3, 144 Abs. 6 VwGO gebunden.[4]
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Um die Einheitlichkeit der Rechtsprechung zu sichern, ist sowohl bei den OVGen bzw. VGHen als auch beim BVerwG jeweils ein Großer Senat (GrS) gebildet, §§ 11 f. VwGO. Dieser entscheidet gem. § 11 Abs. 2 VwGO (ggf. i.V.m. § 12 Abs. 1 S. 1 VwGO) immer dann, wenn ein Senat in einer Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Senats oder des betreffenden Großen Senats abweichen will, sog. Divergenz. Nicht mit dem Großen Senat (beim BVerwG) zu verwechseln ist der Gemeinsame Senat der Obersten Gerichtshöfe des