Europäisches Prozessrecht. Christoph Herrmann
Gesetzesentwurf stellte die Kommission das Verfahren allerdings ein. Im Oktober 2017 erhob dagegen Österreich eine noch anhängige Staatenklage gegen die für das Jahr 2019 geplante Einführung der Pkw-Maut in Deutschland.[27]
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Die begründete Stellungnahme stellt die Tatsachen, Rechtsgründe und die Bewertung eines konkreten Unionsrechtsverstoßes zusammenhängend und detailliert dar.[28] Sie präzisiert die bereits im Mahnschreiben zum Ausdruck gekommene Rechtsauffassung der Kommission. Jedoch darf die Kommission die im Mahnschreiben festgelegten Tatbestände weder durch die begründete Stellungnahme noch durch die anschließende Klagerhebung erweitern. Jede Erweiterung des Streitgegenstands bedarf zwingend eines neuen Mahnschreibens; bereits laufende Verfahren dürfen nicht kombiniert abgehandelt werden.[29] Durch dieses „Kontinuitätsgebot“[30] soll sichergestellt werden, dass der betroffene Mitgliedstaat während des Gerichtsverfahrens nur mit Verstößen konfrontiert wird, zu denen er im Vorfeld Stellung beziehen konnte. Für den Fall, dass der Mitgliedstaat sein Verhalten im Vorverfahren teilweise korrigiert, kann die Kommission die tatsächlichen und rechtlichen Vorwürfe einschränken.[31]
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Die von der Kommission in Fall 1 erhobene Aufsichtsklage gegen die BRD stellt ein Vertragsverletzungsverfahren dar, vor dem nach Art. 258 AEUV ein ordnungsgemäßes Vorverfahren durchgeführt werden musste. Dabei ist es unschädlich, dass kein sog. EU-Pilotverfahren durchgeführt wurde. Dieser informelle Dialog zwischen der Kommission und dem betroffenen Mitgliedstaat ist nicht Teil des zwingend durchzuführenden Vorverfahrens, zumal dem Mitgliedstaat darin wiederholt Gelegenheit gegeben wird, den behaupteten Unionsrechtsverstoß abzustellen.
Das Mahnschreiben der Kommission (Art. 258 I Hs. 2 AEUV) ging der BRD im November 2017 zu. Die Kommission teilte der BRD schriftlich mit, dass das Nationalitätserfordernis ihrer Auffassung nach gegen das Unionsrecht verstoße. Der BRD wurde mitgeteilt, dass ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet werde und ihr wurde eine Frist von zwei Monaten zur Stellungnahme gesetzt. Die BRD musste von dieser Gelegenheit keinen Gebrauch machen. Die Kommission gab im Februar 2017, d.h. nach Ablauf der Zwei-Monats-Frist, die in Art. 258 II AEUV vorgesehene begründete Stellungnahme ab, mit der die BRD unter Fristsetzung dazu aufgefordert wurde, den Vertragsverstoß abzustellen. Allerdings ergänzte die Kommission ihren Vortrag um den Hinweis auf den unionsrechtswidrigen Tätigkeitsvorbehalt für Notare. Insoweit lässt sich vertreten, dass bereits das Vorverfahren fehlerhaft war und die Klage damit hinsichtlich des in der begründeten Stellungnahme erstmalig erhobenen Vorwurfs unzulässig ist. Nach anderer Auffassung handelt es sich hierbei um eine Frage des Klagegegenstandes (vgl. Rn. 182 ff.).
Somit wurde grundsätzlich ein ordnungsgemäßes Vorverfahren durchgeführt.
2. Das Vorverfahren der Staatenklage
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Die durch andere Mitgliedstaaten eingeleitete Staatenklage sieht ebenfalls ein Vorverfahren vor. Es lässt sich in zwei Abschnitte einteilen: erstens den Antrag eines Mitgliedstaates und die anschließende Befassung der Kommission im Rahmen eines kontradiktorischen Verfahrens und zweitens die abschließende Stellungnahme der Kommission.[32]
a) Der Antrag eines Mitgliedstaats und das kontradiktorische Verfahren
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Die Einleitung des Verfahrens nach Art. 259 II und IV AEUV erfolgt auf Antrag eines Mitgliedstaats bei der Kommission. Anders als die Kommission sind die Mitgliedstaaten nicht zur Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens verpflichtet. Entscheiden sich die Mitgliedstaaten zur Antragstellung, kann dies formfrei erfolgen. Burgi weist in diesem Zusammenhang sogar auf die Möglichkeit eines mündlichen Antrags hin, der in der Praxis jedoch unüblich ist.[33] Wie im Mahnschreiben nach Art. 258 AEUV wird bereits im Vorverfahren der Staatenklage der Streitgegenstand eines potentiellen gerichtlichen Verfahrens festgelegt. Somit sollte der mitgliedstaatliche Antrag zumindest den Gegenstand des Vorwurfs, d.h. den Sachverhalt, nach dem sich aus Sicht des antragstellenden Mitgliedstaates die Vertragsverletzung ergibt, und die einschlägigen Vorschriften des Unionsrechts enthalten. Des Weiteren muss der Zweck des mitgliedstaatlichen Antrags, d.h. die Einleitung der Staatenklage nach Art. 259 AEUV, deutlich erkennbar sein. Der Antrag darf somit nicht als bloße Anregung für die Einleitung einer Aufsichtsklage nach Art. 258 AEUV verstanden werden. Nichtsdestotrotz kann die Kommission, als „Hüterin der Verträge“, zu jeder Zeit ein eigenes Verfahren nach Art. 258 AEUV einleiten. Der antragstellende Mitgliedstaat kann in diesem Fall frei entscheiden, ob er an seinem Antrag festhalten möchte.
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Mit dem Antrag des Mitgliedstaats muss der Gegenstand des Vorwurfs hinreichend substantiiert und der Zweck des Antrags hinreichend deutlich gemacht werden. Dann beginnt mit Antragstellung die Drei-Monats-Frist nach Art. 259 IV AEUV. Anderenfalls muss die Kommission den antragstellenden Mitgliedstaat auffordern, Unklarheiten auszuräumen.[34] Die Frist beginnt erst, sobald dies geschehen ist. Sie wird im Übrigen nicht nach Art. 51 VerfO-EuGH verlängert, da es sich nicht um eine durch den GHEU gesetzte Frist handelt.
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Nach der Antragstellung muss die Kommission „den beteiligten Staaten (…) Gelegenheit zu schriftlicher und mündlicher Äußerung in einem kontradiktorischen Verfahren“ geben (Art. 259 III AEUV). Während dieses Verfahrens dürfen sich die Mitgliedstaaten nur auf den im Antrag festgelegten Gegenstand beziehen. Die Kommission kann diesen kontradiktorischen Verfahrensteil nach ihrem Ermessen organisieren. Sie kann entscheiden, wie häufig den Mitgliedstaaten das Recht zur schriftlichen und mündlichen Äußerung gegeben wird. Die Kommission muss allerdings für absolute Chancengleichheit sorgen.[35] Ihr kommt in diesem Sinne eine ermessensbegrenzende Schieds- und Vermittlerfunktion zu.[36]
b) Die abschließende Stellungnahme der Kommission
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Sofern der antragstellende Mitgliedstaat nach Abschluss des kontradiktorischen Verfahrens an der Einleitung der Staatenklage festhalten möchte, gibt die Kommission eine abschließende Stellungnahme ab. Nach Ablauf der Drei-Monats-Frist räumt Art. 259 IV AEUV dem antragstellenden Mitgliedstaat allerdings ein von der Stellungnahme der Kommission unabhängiges Klagerecht ein. Im Gegensatz zu Art. 258 AEUV ist die abschließende Stellungnahme also keine Zulässigkeitsvoraussetzung der Klage. Ebenso können mögliche Rechtsverstöße der Kommission, wie z.B. eine Erweiterung des im mitgliedstaatlichen Antrag dargelegten Verfahrensgegenstands, nicht zum Verlust der Klagemöglichkeit eines Mitgliedstaats führen.[37]
IV. Klagegegenstand
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Die gerichtliche Prüfung der Klage nimmt zuerst das Vorverfahren in den Blick: Im ersten Schritt wird ermittelt, ob die Klageschrift über den im Vorverfahren festgelegten Streitgegenstand hinausgeht. Liegt eine solche unzulässige Erweiterung des Streitgegenstands nicht vor, wird im zweiten Schritt geprüft, ob der Klagegegenstand statthaft ist. Dies ist der Fall, wenn der Kläger der Auffassung ist, dass der beklagte Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen verstoßen hat (Art. 258 I, Art. 259 I AEUV). Der behauptete Vertragsverstoß kann durch die Handlungen oder Unterlassungen sämtlicher Organe eines Staates herbeigeführt worden sein,[38] die Rechtsprechungstätigkeit eines Gerichts ebenso wie eine verfestigte und allgemeine Verwaltungspraxis der nationalen Behörden.[39]
Eine Ausnahme sieht Art. 126 X AEUV für die Überprüfung der Haushaltsdisziplin der Mitgliedstaaten vor. Die Überprüfung durch die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens