Europäisches Prozessrecht. Christoph Herrmann
aus dem Völkergewohnheitsrecht abzuleitenden Einschränkungen des ihm in Art. 21 AEUV gewährten Freizügigkeitsrechts hinnehmen.[4]
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Die Kommission hingegen macht von ihrem Aufsichtsklagerecht durchaus Gebrauch. Sie kommt damit ihren primärrechtlichen Verpflichtungen nach, denn ihr fällt
„kraft ihres Amtes im allgemeinen Interesse der [Union] die Aufgabe zu, die Ausführung des Vertrages und der auf seiner Grundlage von den Organen erlassenen Vorschriften durch die Mitgliedstaaten zu überwachen und damit etwaige Verstöße gegen die sich hieraus ergebenen Verpflichtungen feststellen zu lassen, damit sie abgestellt werden.“[5]
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Diese Aufgabe der Kommission ist in Art. 17 I EUV vertraglich niedergelegt, sodass die Aufsichtsklage nach Art. 258 AEUV als besondere Ausprägung der in Art. 17 EUV festgelegten Pflichten der Kommission zu verstehen ist.[6]
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Da Aufsichtsklage und Staatenklage selbstständig nebeneinander stehen, kann derselbe Sachverhalt zur Erhebung einer Staaten- und einer Aufsichtsklage führen. Der Eingang einer mitgliedstaatlichen Staatenklage hindert die Kommission nicht an der gerichtlichen Einleitung einer Aufsichtsklage aufgrund desselben mitgliedstaatlichen Vertragsverstoßes. Zudem sind auf Grund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts auch mitgliedstaatliche Gerichte dazu angehalten, unionsrechtswidrige innerstaatliche Rechtsakte zu verwerfen. Eine Klage vor der nationalen Gerichtbarkeit schließt die direkte Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens ebenso wenig aus. Im Gegenzug sperrt das Unionsrecht zu keinem Zeitpunkt die Einleitung eines nationalen Verfahrens; bei unionsrechtlichen Gültigkeitsfragen kann das mitgliedstaatliche Gericht diese nach Art. 267 AEUV vorlegen (vgl. Rn. 395).[7]
§ 4 Das Vertragsverletzungsverfahren › B. Zulässigkeit des Vertragsverletzungsverfahrens
B. Zulässigkeit des Vertragsverletzungsverfahrens
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Fall 1:[8]
Im August 2017 nahm die Europäische Kommission eine Untersuchung wegen eines möglichen Verstoßes der Bundesrepublik Deutschland (BRD) gegen die Verpflichtungen aus den Verträgen auf. Dabei stellte sie fest, dass der Zugang zum Beruf des Notars in Deutschland nur deutschen Staatsangehörigen eröffnet ist (sog. Nationalitätsvorbehalt). Dies verstieß nach Ansicht der Kommission gegen den Diskriminierungsschutz der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV).
Ohne zuvor den Dialog mit der BRD zu suchen, forderte die Kommission die BRD im November 2017 auf, sich zu dem vorgeworfenen Verstoß innerhalb einer Frist von zwei Monaten zu äußern. Dabei legte die Kommission schriftlich die Tatsachen und wesentlichen Rechtsgründe dar, die aus ihrer Sicht zu einer Verletzung der genannten Vorschriften führen. Ferner teilte sie mit, dass mit diesem Schreiben ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die BRD eingeleitet werde. Die BRD reagierte auf das Kommissionsschreiben nicht.
Im Februar 2018 gab die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab. Dabei wiederholte sie zunächst, dass der Nationalitätsvorbehalt einen Verstoß gegen den AEUV darstelle. Ferner führte sie erstmals aus, dass auch der sog. Tätigkeitsvorbehalt, d.h. der Vorbehalt der in der Bundesnotarordnung geregelten Tätigkeiten zu Gunsten von Notaren, einen Verstoß gegen den AEUV darstelle. Die Kommission setzte der BRD in ihrer Stellungnahme eine Frist von zwei Monaten zur Beseitigung dieser beiden Verstöße. Die BRD reagierte abermals nicht, informierte die Kommission jedoch Anfang Mai davon, dass durch eine lange geplante und zum 1.5.2018 in Kraft getretene Gesetzesnovelle des Notarwesens der Nationalitätsvorbehalt entfallen sei. Mit der Gesetzesänderung sollte der Notarberuf attraktiver gemacht werden. Dennoch erhob die Kommission Mitte Mai 2017 Klage vor dem Gerichtshof der Europäischen Union.
Im Laufe des Verfahrens erwiderte die BRD auf die Klage der Kommission, dass der Vorwurf hinsichtlich des Tätigkeitsvorbehaltes schon deswegen unzulässig sei, weil er erst in der begründeten Stellungnahme erhoben worden sei. Die BRD habe sich zuvor dazu überhaupt nicht äußern können, zumal die Kommission auch treuwidrig von der Durchführung des üblichen Pilotverfahrens abgesehen hätte. Der Nationalitätsvorbehalt sei mittlerweile ohnehin nur noch Rechtsgeschichte.
Die Kommission hielt in ihrer weiteren Erwiderung entgegen, dass es allein in der Entscheidungsbefugnis der Kommission liege, wann und wie sie ein Vertragsverletzungsverfahren führe. Geklagt werden könne auch ohne vorhergehendes Pilotverfahren. Jedenfalls habe die BRD genügend Gelegenheit, sich vor dem Gerichtshof zu dem Vorwurf hinsichlich des Tätigkeitsvorbehalts zu äußern.
Ist die von der Kommission gegen die BRD erhobene Klage zulässig?
I. Zuständigkeit
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Das Vertragsverletzungsverfahren vor dem GHEU (Art. 19 III lit. a) EUV, Art. 258 f. AEUV) fällt organintern in die ausschließliche Zuständigkeit des EuGH. Art. 256 I UA 1 AEUV i.V.m. Art. 51 GHEU-Satzung schließt eine Übertragung der Zuständigkeit auf das EuG aus. Darin kommt der verfassungsrechtliche Charakter der im föderalen Verhältnis zwischen der EU und den Mitgliedstaaten oder den Mitgliedstaaten untereinander wurzelnden Streitigkeit zum Ausdruck (ähnlich dem bundesverfassungsgerichtlichen Bund-Länder-Streit).
II. Parteifähigkeit
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Das Vertragsverletzungsverfahren ist ein kontradiktorisches Verfahren vor dem EuGH, für das sowohl Kläger als auch Beklagter parteifähig sein müssen.
Nach Art. 258 I AEUV ist die Kommission antragsberechtigt und somit aktiv parteifähig. Nach Art. 259 I AEUV kommt diese Rolle auch den Mitgliedstaaten zu. Passiv parteifähig in Verfahren nach Art. 258 f. AEUV sind ausschließlich die Mitgliedstaaten. Es ist zu beachten, dass nach ständiger Rechtsprechung des EuGH[9] eine umfassende Zurechnung von unionsrechtlichem Fehlverhalten zu einem Mitgliedstaat vorgenommen wird, die sich auf die Handlungen sämtlicher mitgliedstaatlicher Organe, Institutionen und Gebietskörperschaften erstreckt.
Beispiel:
Teilweise sind in Deutschland die Bundesländer für die Umsetzung von Richtlinien verantwortlich. Kommt es zu einer lückenhaften, mangelhaften oder nicht fristgerechten Umsetzung, muss sich die BRD als Gesamtstaat diese Versäumnisse zurechnen lassen. Die Frage der Umsetzung ist allein von nationalrechtlicher Relevanz; in Deutschland sind die Art. 30, 70 ff. GG einschlägig. Hiernach kommt dem Bund keine generelle unionale „Umsetzungskompetenz“ zu. Die Länder werden durch den Grundsatz der Bundestreue zur rechtmäßigen Umsetzung von EU-Richtlinien verpflichtet. Sollte es aufgrund von Umsetzungsverstößen der Bundesländer zu Schadensersatzforderungen oder Strafzahlungen kommen, haften diese innerstaatlich selbst (Art. 104a VI GG).[10] Aus unionsrechtlicher Perspektive muss sich dennoch die BRD, organschaftlich durch die Bundesregierung vertreten, als rechtmäßiger Klagegegner im Vertragsverletzungsverfahren verantworten.
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Der Grundsatz, dass ein organschaftliches Fehlverhalten einem Mitgliedstaat als Ganzem zugerechnet werden kann, gilt auch dann, wenn die einzelnen Staatsgewalten selbst nicht rechtsfähig sind. So kann z.B. die unabhängige Tätigkeit eines mitgliedstaatlichen Gerichts zum Gegenstand eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen diesen Mitgliedstaat werden, wenn das Gericht gegen seine Vorlagepflicht aus Art. 267 III AEUV verstößt. In der Praxis verzichtet die Kommission aufgrund des Grundsatzes der Unabhängigkeit der Justiz in diesen Fällen jedoch häufig auf die Erhebung der Aufsichtsklage.[11]
III. Ordnungsgemäße Durchführung des Vorverfahrens
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Das