Europäisches Prozessrecht. Christoph Herrmann
(1.5.2018).
Grabitz/Hilf/Nettesheim/Mayer, Das Recht der Europäischen Union, 62. EL 2017, Art. 19 EUV Rn. 114.
Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 6. Aufl. 2016, § 7 Rn. 3.
So noch Streinz/Huber, EUV/EGV, 1. Aufl. 2003, Art. 220 EGV Rn. 3.
Groh, Die Auslegungsbefugnis des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, 2005, S. 41 ff.
Allgemein zum Ablauf und dem rechtlichen Rahmen des Austrittsverfahrens Skouris, Rechtliche Vorgaben für den Austritt aus der EU, EuZW 2016, S. 806 ff. und Thiele, Der Austritt aus der EU – Hintergründe und rechtliche Rahmenbedingungen eines „Brexit“, EuR 2016, S. 281 ff.; zu einigen der Rechtsfragen vgl. Miller (Hrsg.), Brexit Suppplement, (17) 2016 German Law Journal, S. 1.
ABl. C 661 vom 19.2.2019, S. 1.
§ 4 Das Vertragsverletzungsverfahren
Inhaltsverzeichnis
A. Charakter und Funktion des Verfahrens
B. Zulässigkeit des Vertragsverletzungsverfahrens
C. Begründetheit des Vertragsverletzungsverfahrens
E. Die Durchsetzung des Urteils
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Die supranationale Unionsrechtsordnung hat eine obligatorische gerichtliche Kontrolle zur Durchsetzung des Unionsrechts geschaffen. Darin unterscheidet sie sich von anderen Völkerrechtsordnungen. Das Vertragsverletzungsverfahren (Art. 258 ff. AEUV) ist eine der beiden wichtigen Direktklagen, denen sich die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten bedienen können.
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Primär obliegt es der Europäischen Kommission, als „Hüterin der Verträge“ für die Einhaltung und Anwendung des primären und sekundären Unionsrechts zu sorgen. Neben Bereichen, in denen ihr spezielle Kontroll- und Überwachungsbefugnisse zukommen, wie z.B. dem Beihilfenrecht, kann die Kommission mittels eines auch als Aufsichtsklage bezeichneten Vertragsverletzungsverfahrens mitgliedstaatliche Unionsrechtsverstöße rügen und sie durch den GHEU kontrollieren lassen. Sollte eine Vertragsverletzung gerichtlich festgestellt werden, können Mitgliedstaaten mittels Sanktionen zur Vornahme von unionsrechtlich gebotenen Maßnahmen angehalten werden. Zudem bietet das Vertragsverletzungsverfahren Mitgliedstaaten die Option, eine Staatenklage gegen andere Mitgliedstaaten wegen Verletzung des Unionsrechts zu erheben. Aus Gründen der politischen Rücksichtnahme unter den Mitgliedstaaten besitzt diese Klagemöglichkeit jedoch nur geringe praktische Relevanz.[1]
§ 4 Das Vertragsverletzungsverfahren › A. Charakter und Funktion des Verfahrens
A. Charakter und Funktion des Verfahrens
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Die Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 f. AEUV bietet die Möglichkeit, feststellen zu lassen, dass ein Mitgliedstaat gegen seine unionsrechtlichen Verpflichtungen verstoßen hat. Ziel des Verfahrens ist es demzufolge, Mitgliedstaaten zur Erfüllung ihrer unionsrechtlichen Verpflichtungen anzuhalten. Gleichzeitig profitieren davon die uniforme Durchsetzung und die Einhaltung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten. Das Vertragsverletzungsverfahren erfüllt eine objektiv-rechtliche Funktion, da es auf die Verletzung subjektiver Rechte natürlicher und juristischer Personen nicht ankommt.[2] Soweit Personen durch unionsrechtswidrige Maßnahmen eines Mitgliedstaats betroffen sind, können sie sich formlos und kostenfrei an die Kommission wenden und eine individuelle Beschwerde einreichen. Es besteht allerdings kein subjektives Recht auf die anschließende Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens durch die Kommission.
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Die Überprüfung der Vereinbarkeit mitgliedstaatlicher Akte mit dem Unionsrecht kann sowohl von der Kommission im Rahmen einer Aufsichtsklage (Art. 258 AEUV) als auch von einem anderen Mitgliedstaat mittels einer Staatenklage (Art. 259 AEUV) eingeleitet werden. Die Verträge verweisen an weiteren Stellen explizit auf diese beiden Klagemöglichkeiten (Art. 108 II UA 2, Art. 114 IX, Art. 348 II AEUV).
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Streiten sich EU-Mitgliedstaaten über ihre unionsrechtlichen Rechte und Pflichten, sind sie nach Art. 344 AEUV verpflichtet, auf das Vertragsverletzungsverfahren zurückzugreifen. Gleichwohl ist die Bedeutung der Staatenklage in der Praxis äußerst gering. Der EuGH hat bis Ende 2017 in lediglich vier Entscheidungen über Staatenklagen nach Art. 259 AEUV geurteilt.[3]
Beispiel:
Der ungarische Präsident wurde von den slowakischen Behörden daran gehindert, zu einer Feier zum Gedenken an den Gründer und ersten König Ungarns in die Slowakei einzureisen und dort eine Rede zu halten. Da am selben Jahrestag allerdings die Truppen des Warschauer Pakts unter Beteiligung der ungarischen Streitkräfte in die damalige Tschechoslowakei einmarschiert waren, hielt die slowakische Regierung die Einreise des ungarischen Präsidenten für politisch unerwünscht. Ungarn leitete daraufhin ein Vertragsverletzungsverfahren mit der Begründung ein, das Einreiseverbot verstoße gegen die persönliche Freizügigkeit der Unionsbürger (Art. 21 AEUV). Beschränkungen der Freizügigkeit sind laut RL 2004/38 nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit zu rechtfertigen. Ein solches Sicherheitsrisiko lag nach der Auffassung Ungarns nicht vor.
Der EuGH stellte fest, dass der Präsident als ungarischer Staatsangehöriger den Status eines Unionsbürgers genieße. Der Status des Staatsoberhaupts weise jedoch völkerrechtliche Besonderheiten auf: Handlungen eines Staatsoberhaupts unterlägen dem völkerrechtlichen Recht der diplomatischen Beziehungen. Hieraus folge, dass es das souveräne Recht eines jeden Staates sei, selbst zu entscheiden, welche Staatsoberhäupter