Europäisches Prozessrecht. Christoph Herrmann

Europäisches Prozessrecht - Christoph Herrmann


Скачать книгу
zu entnehmen, um Vorlagefragen nicht beantworten zu müssen, die von den befassten Gerichten unproblematisch selbst beantwortet werden können.[54] Ebenfalls könnte der GHEU die Frage nach der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage selbst prüfen, anstatt sie den vorlegenden Gerichten zu überlassen und sich auf eine Missbrauchskontrolle zu beschränken. Nach anfänglicher Mehrarbeit könnte daraus eine Entlastung des EuGH resultieren, da und soweit mitgliedstaatliche Gerichte restriktiver vorlegen würden. Auf der anderen Seite dienen die Vorlageverfahren dazu, die einheitliche Auslegung des Unionsrechts und die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zu sichern. Insofern besteht ein unionsrechtliches Interesse an der Bereitschaft der mitgliedstaatlichen Gerichte, (relevante) unionsrechtliche Fragen vorzulegen, zumal die Vorlagebereitschaft in den Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich ausgeprägt ist.

      144

      Für Nichtigkeitsklagen können die obigen Ausführungen hingegen keine Geltung beanspruchen. Durch die strenge Handhabung der Individualklagevoraussetzungen kommt es zu keiner unnötigen Mehrbelastung aufgrund von Nichtigkeitsklagen, die rechtsstaatlich vertretbar vermieden werden könnte.

      145

      

      In beiden Fällen gilt, dass eine Änderung des Primärrechts durch die Vertragsstaaten grundsätzlich denkbar wäre. Normhierarchisch stehen Art. 263 und Art. 267 AEUV zwar auf gleicher Stufe mit dem widerstreitenden Gebot des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 I EUV, Art. 47 GRC). Dabei handelt es sich jedoch um eine Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips, einem allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts. In seiner Abstraktheit lässt es Modifikationen an den Klagevoraussetzungen zu, würde hingegen einem umfänglichen Ausschluss des Rechtswegs entgegenstehen. Eine solche Vertragsänderung dürfte darüber hinaus politisch kaum durchsetzbar sein.

      § 3 Der Gerichtshof der EU › G. Ausblick: Auswirkungen des Brexits

      146

      Das Austrittsabkommen sieht eine Übergangsfrist bis zum 31.12.2020 vor, innerhalb derer das Vereinigte Königreich weitgehend wie ein Mitgliedstaat gestellt wäre, ohne allerdings in den EU-Organen Mitwirkungsrechte zu haben. Unionsrecht müsste vom Vereinigten Königreich weiterhin mit allen seinen spezifischen Wirkungen angewendet und durchgesetzt werden (Art. 4 WA). Die Zuständigkeit des GHEU würde sich gemäß Art. 131 WA explizit weiterhin auch auf das Vereinigte Königreich erstrecken. Für die Zeit nach Ablauf der Übergangsfrist wird ein Freihandelsabkommen angestrebt, das über einen eigenständigen Streitbeilegungsmechanismus verfügen würde, der allerdings die Autonomie des Unionsrechts und die Position des GHEU wahren müsste.

      147

      

      Britisches Recht, das Unionsrecht umsetzt, bleibt auch nach einem ungeregelten Austritt gültig. Das primäre Unionsrecht – und damit auch das abgeleitete Unionsrecht – verliert jedoch am Tag des Austritts bzw. spätestens mit Ablauf der Übergangsfrist des WA seine Bindungswirkung für das Vereinigte Königreich (Art. 50 III EUV). Die britischen Gerichte sind dann nicht mehr an die Rechtsprechung des EuGH und dessen Auslegungsprimat gebunden. Sie müssen die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts in ihren Auslegungsbemühungen nicht mehr wahren. Auch die Klagemöglichkeiten nach den Art. 258 ff. AEUV und das Vorabentscheidungsverfahren stehen Großbritannien dann nicht mehr zur Verfügung.

      148

      

      Allerdings sieht das WA eine Zuständigkeit des GHEU auch für bestimmte Fragen betreffend das WA bzw. das durch dieses im Vereinigten Königreich anzuwendende Unionsrecht auch über den Ablauf der Übergangsfrist, d.h. ab dem 1.1.2021 vor (Art. 86 ff., Art. 158 ff. WA). Das betrifft sowohl bereits anhängige Verfahren als auch neue Verfahren, die sich aus dem WA selbst ergeben.

      § 3 Der Gerichtshof der EU › H. Zusammenfassung

      149

      Der GHEU ist das nach Art. 19 I EUV innerhalb der EU zuständige Rechtsprechungsorgan. Das Organ besteht aus dem EuGH, dem EuG und bis 2016 dem GöD als bislang einzigem Fachgericht. Wichtige Rechtsgrundlagen für die Tätigkeit des GHEU finden sich in den Art. 251 ff. AEUV sowie der GHEU-Satzung und den Verfahrensordnungen der Gerichte.

      150

      

      Der GHEU ist für die enumerativ in den EU-Verträgen aufgelisteten Verfahren zuständig (Art. 19 III AEUV), wenn diese durch die Verfahrensbeteiligten eingeleitet werden. Die sachliche Zuständigkeitsverteilung zwischen dem EuGH und dem EuG regelt Art. 256 AEUV unipolar für das EuG, die Zuständigkeiten des EuGH ergeben sich unter Beachtung abweichender Sonderzuweisungen in der GHEU-Satzung im Umkehrschluss. Das GöD war ausschließlich für dienstrechtliche Streitigkeiten der EU-Bediensteten zuständig.

      151

      

      Vor dem EuGH unterteilen sich die Verfahren in eine Einleitungsphase, das schriftliche und das mündliche Verfahren sowie den Abschluss durch Entscheidung. Sie werden durch die VerfO-EuGH näher ausgestaltet. Die Auslegungsmethoden, die der EuGH zur Entscheidungsfindung anwendet, entsprechen im Wesentlichen dem klassischen Auslegungskanon aus Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte und Sinn und Zweck. Die teleologische Auslegung unter Berücksichtigung der praktischen Wirksamkeit (effet utile) des Unionsrechts ermöglicht dabei eine dynamische Fortentwicklung des Unionsrechts.

      152

      

      Der andauernde Reformprozess am GHEU zielt darauf ab, die Verfahrensrückstände zu beseitigen und die Verfahrensdauer zu verkürzen. Die Anzahl der Richterstellen am EuG wird verdoppelt, gleichzeitig wurde das GöD abgeschafft und seine Zuständigkeit dem EuG zugeschlagen. Kritische Stimmen mahnen jedoch an, das eine bloße Erhöhung der Richterzahl die Verfahrensrückstände des GHEU nicht zwangsläufig beseitigt. Weitere Reformen, wie z.B. die Schaffung eines Fachgerichts im Bereich des geistigen Eigentums oder die Verbesserung der internen Arbeitsabläufe erscheinen dringend notwendig. Zudem wird auch die parlamentarische Mitwirkung an der Richterauswahl zur Erhöhung der demokratischen Legitimität erwogen.

      Vertiefende Literatur:

      Alemanno/Pech, Thinking Justice outside the Docket: A Critical Assessment of the Reform of the EUʼs Court System, Common Market Law Review 2017, 129 ff.; dies., EU Judge Dehousseʼs Farewell Address to the CJEU, 27.10.2016, http://eulawanalysis.blogspot.de/2016/10/eu-judge-dehousses-farewell-address-to.html (1.5.2018); dies., Reform of the EUʼs Court System: Why a more accountable – not a larger – Court is the way forward, 17.7.2015, http://verfassungsblog.de/reform-of-the-eus-court-system-why-a-more-accountable-not-a-larger-court-is-the-way-forward/


Скачать книгу