Europäisches Prozessrecht. Christoph Herrmann
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Im Vorabentscheidungsverfahren wird das Ersuchen zunächst in alle Amtssprachen übersetzt und den Parteien des Ausgangsrechtsstreits, den Mitgliedstaaten und den beteiligten EU-Institutionen mit der Möglichkeit zur Stellungnahme zugestellt (Art. 23 GHEU-Satzung, Art. 98 VerfO-EuGH).
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In allen Verfahren entscheidet die Generalversammlung über die Verweisung der Rechtssache an die Spruchkörper auf Grundlage des Vorberichts des Berichterstatters (Art. 59 f. i.V.m. Art. 25 VerfO-EuGH). Die Zuweisung an den Vorberichterstatter durch den Präsidenten des EuGH und die Entscheidung der Generalversammlung nach Abschluss des schriftlichen Verfahrens, die Rechtssache einem bestimmten Spruchkörper zuzuteilen, sind mit dem deutschen (Recht auf den) gesetzlichen Richter nach Art. 101 I 2 GG schwer zu vereinbaren. So muss in den deutschen Gerichtsbarkeiten bei Eingang der Rechtssache ohne Ansehung ihres konkreten Gegenstandes oder der Beteiligten anhand von abstrakt-generellen Kriterien bereits feststehen, welcher Spruchkörper die Rechtssache entscheiden wird. Damit soll unsachlichen Manipulationsversuchen der Rechtsschutzsuchenden, aber auch anderer Staatsgewalten und der Judikative selbst vorgebeugt werden.[24] Freilich ist dieser Grundsatz für den GHEU nicht bindend; die Anwendbarkeit seiner Ratio auf den GHEU kann aber durchaus kontrovers diskutiert werden.[25]
III. Mündliches Verfahren
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Das mündliche Verfahren (Art. 20 IV GHEU-Satzung) dient den Beteiligten dazu, ihren Standpunkt zu den strittigen Sach- und Rechtsfragen noch einmal darzustellen und erfüllt insofern den Anspruch auf rechtliches Gehör. Daneben haben die beteiligten Richter und der Generalanwalt die Möglichkeit, klärungsbedürftige Fragen zu stellen. Auf das mündliche Verfahren kann, ebenso wie auf eine Beweisaufnahme, verzichtet werden.
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Den Abschluss der mündlichen Verhandlung bilden die (in der Praxis häufig zu einem späteren Zeitpunkt gestellten) Schlussanträge des Generalanwalts (Art. 82 I VerfO-EuGH), soweit gem. Art. 20 V GHEU-Satzung nicht auch darauf verzichtet wird.
IV. Verfahrensabschluss
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Die geheime Beratung der Spruchkammer bildet den gerichtsinternen Verfahrensabschluss, an dessen Ende die Kammer mit einfacher Mehrheit über die Rechtssache entscheidet. Abweichende Meinungen oder Sondervoten sind nicht möglich. Auch das Abstimmungsergebnis wird nicht veröffentlicht.
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Bei vorangegangener mündlicher Verhandlung wird durch Urteil entschieden, das in öffentlicher Sitzung verkündet wird. Ansonsten entscheidet das Gericht durch Beschluss, der den Parteien zugestellt wird. Die notwendigen Entscheidungsinhalte ergeben sich aus den Art. 87 bzw. Art. 89 VerfO-EuGH. Mit Verkündung bzw. Zustellung erwachsen die Entscheidungen in Rechtskraft. Die Urteils- oder Beschlussformel wird im Amtsblatt der EU und im Volltext auf der Homepage des GHEU veröffentlicht. Gleichzeitig werden ausgewählte Urteile in die amtliche Sammlung des GHEU aufgenommen.
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Zur Information der Öffentlichkeit und zur Bearbeitung am Gerichtshof, dessen Arbeitssprache Französisch ist, werden die Verfahrensdokumente ins Französische übersetzt. Urteile und Entscheidungen, die in der amtlichen Sammlung, d.h. auf der EUR-Lex-Website[26] veröffentlicht werden, werden in alle Amtssprachen der EU übersetzt. Andere Urteile und Entscheidungen werden in der Beratungs- und Verfahrenssprache, d.h. in französischer und ggf. einer weiteren Sprache auf der Website des Gerichtshofs veröffentlicht. Ob eine Entscheidung in die Sammlung der Rechtsprechung aufgenommen wird, richtet sich nach der Wichtigkeit der Rechtssache und der Einschätzung des entscheidenden Spruchkörpers.
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Die Vollstreckbarkeit der Urteile richtet sich aufgrund des Verweises in Art. 280 AEUV nach den in Art. 299 II bis IV AEUV geregelten allgemeinen Grundsätzen über die Vollstreckung von Rechtsakten des Rates, der Kommission oder der EZB. Vollstreckt wird nach innerstaatlichem Recht und durch innerstaatliche Behörden. Vollstreckungsfähig sind Leistungsurteile. Gestaltungs- oder Feststellungsurteile sind es nicht. Daher können im Vertragsverletzungsverfahren ergangene Urteile (vgl. Art. 260 I AEUV) nicht vollstreckt werden.[27]
§ 3 Der Gerichtshof der EU › E. Auslegung des Unionsrechts
E. Auslegung des Unionsrechts
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Unter der „Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge“ (Art. 19 I UA 1 S. 1 EUV), mit der der GHEU beauftragt ist, ist die Konkretisierung des Unionsrechts und die Subsumtion von Sachverhalten, die den zu entscheidenden Rechtsstreitigkeiten zugrunde liegen, zu verstehen. Der GHEU widmet sich dieser Kernaufgabe – wie andere nationale und internationale Gerichte – anhand des klassischen juristischen Kanons der Auslegungsmethoden. Auch wenn insoweit weitgehende Deckungsgleichheit mit den aus der deutschen Rechtsdogmatik bekannten Methoden besteht, gibt es im Detail durchaus erwähnenswerte Besonderheiten im Unionsrechtssystem.
I. Anerkannte Auslegungsmethoden
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Zu den anerkannten und praktizierten Auslegungsmethoden zählen die grammatikalische, die systematische, die historische und die teleologische Auslegung. Während die historische Auslegung im Kontext des internationalen Rechts nur mit Einschränkungen heranzuziehen ist, ist die teleologische Auslegung im Unionsrecht besonders ausgeprägt.
1. Grammatikalische Auslegung
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Die wortlautorientierte Auslegung fragt nach dem Bedeutungsgehalt des Begriffs vor dem Hintergrund des in der Sprachgemeinschaft vorherrschenden Verständnisses. In der EU mit ihren 24 gleichberechtigten Amtssprachen (Art. 55 I EUV, Art. 358 AEUV) sind daher grundsätzlich alle Sprachfassungen einzeln zu berücksichtigen und abzugleichen. Insofern wohnt der grammatikalischen Auslegung immer ein vergleichender Aspekt inne, der in vollem Umfang freilich häufig nicht praktikabel ist. In der Rechtsprechungspraxis kommt deswegen zum einen den am weitesten verbreiteten Amtssprachen (d.h. dem Englischen, Französischen und Deutschen) größere Bedeutung zu, zum anderen kommt es regelmäßig zu einer eigenständig unionsrechtlichen Begriffsbildung,[28] die sich von nationalen Begriffsverständnissen löst.
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Dadurch wird gleichzeitig der Autonomie der Unionsrechtsordnung Rechnung getragen. Dieser in den Entscheidungen Van Gend en Loos[29] und Costa/ENEL[30] entwickelte Grundsatz besagt, dass das Unionsrecht eine eigenständige Rechtsordnung darstellt. Sie hat absoluten Vorrang vor den nationalen Rechtsordnungen und darf durch nationales oder zwischenstaatliches Recht nicht beeinträchtigt oder in ihrem Bedeutungsgehalt verändert werden. Bereits im Rahmen der Auslegung soll vermieden werden, dass nationale Rechtsbegriffe auf das Unionsrecht übertragen werden und dieses determinieren könnten. EU-Vorschriften sind folglich unionsrechtlich-autonom auszulegen.
Beispiel:
In der Entscheidung Lawrie-Blum stellte der EuGH fest, der Begriff des Arbeitnehmers im Sinne von Artikel 48 EWG-Vertrag [nun Art.