Europäisches Prozessrecht. Christoph Herrmann
eines Vorverfahrens die Gelegenheit gegeben wurde, sich zu dem Vorwurf, Unionsrecht verletzt zu haben, zu äußern. Souveränitätsschonend soll so auf diplomatischem Weg ein potentielles „Anprangern“ des betreffenden Mitgliedstaats verhindert werden. Insofern bezweckt das Vorverfahren, Konflikte im Vorfeld gerichtlicher Auseinandersetzungen politisch zu lösen, indem der Staat einen eventuellen Verstoß abstellen oder sich gegen den Vorwurf zur Wehr setzen kann. Eine weitere wichtige Funktion des Vorverfahrens ist die Festlegung und Beschränkung des prozessualen Streitgegenstands.[12] Dem Vorverfahren kommt insgesamt also eine Warn- und Filterfunktion zu.[13]
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Noch vor Einleitung des Vorverfahrens der Aufsichtsklage versucht die Kommission, die einzelnen Vorwürfe in einem primärrechtlich nicht vorgesehenen informellen schriftlichen Austausch mit dem zuständigen Ministerium des betreffenden Mitgliedstaats auszudiskutieren. Dieses Pilotverfahren verfolgt das Ziel, die Streitigkeiten über die von der Kommission vermutete Vertragsverletzung mit Hilfe eines vertraulichen Schriftwechsels beizulegen. Ein etwaiges Einlenken der Mitgliedstaaten kann so unter Ausschluss der Öffentlichkeit und insbesondere der Medien stattfinden; dies ist wohl der effizienteste Weg einer außergerichtlichen Einigung. In der Praxis werden häufig sog. Paketsitzungen einberufen, bei denen Beamte der Kommission und des betroffenen Mitgliedstaats gemeinsam nach einer Lösung für das Problem suchen. Das offizielle Vorverfahren wird erst nach Scheitern des Pilotverfahrens eingeleitet.[14]
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Ausnahmsweise entfällt in beihilferechtlichen Streitigkeiten das Vorverfahren nach Art. 108 II UA 2 AEUV, wenn das förmliche Prüfverfahren mit einem Negativbeschluss der Kommission endet. Dann können die Kommission oder von der Beihilfe betroffene Staaten unmittelbar Klage erheben. In diesem Fall beschränkt sich der Klagegegenstand auf die Nichtbefolgung des Kommissionsbeschlusses. Der beklagte Mitgliedstaat kann sich nur damit verteidigen, dass er den Beschluss nicht (mehr) befolgen muss. Eine inhaltliche Rechtmäßigkeitsprüfung des Kommissionsbeschlusses findet nicht statt.[15] Dafür müsste der betroffene Mitgliedstaat eine Nichtigkeitsklage erheben.
1. Das Vorverfahren der Aufsichtsklage
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Das Vorverfahren nach Art. 258 I AEUV sieht zuerst ein Mahnschreiben der Kommission vor, dann die Möglichkeit zur Gegendarstellung durch den betroffenen Mitgliedstaat und daran anschließend die begründete Stellungnahme der Kommission. Mahnschreiben und Stellungnahme sind zwingende Zulässigkeitsvoraussetzungen. Äußert sich der Mitgliedstaat nicht, führt dies hingegen nicht zur Unzulässigkeit der Klage.[16]
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Umstritten ist, ob die Kommission rechtlich verpflichtet ist, auf mutmaßliche mitgliedstaatliche Vertragsverstöße, die ihr bekannt sind oder bekannt gemacht werden, mit der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens zu reagieren. Zur Stärkung des Legalitätsprinzips spricht Einiges dafür, aufgrund des insoweit eindeutigen Wortlauts in Art. 258 I AEUV i.V.m. den imperativ formulierten Pflichten der Kommission als „Hüterin der Verträge“ (Art. 17 EUV) davon auszugehen, dass zumindest die Einleitung des Vorverfahrens rechtlich zwingend erforderlich ist. Im Anschluss „kann“ dann ausweislich Art. 258 II AEUV die Kommission den Gerichtshof anrufen, muss es aber nicht (Opportunitätsprinzip).[17]
a) Das Mahnschreiben der Kommission
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Art. 258 I AEUV verlangt von der Kommission, vor ihrer begründeten Stellungnahme dem betroffenen Mitgliedstaat „Gelegenheit zur Äußerung“ zu geben. Das Mahnschreiben soll die Ausübung des Rechts auf rechtliches Gehör ermöglichen;[18] es zielt weniger auf eine Aufklärung des Sachverhalts ab als darauf, dem zu verklagenden Mitgliedstaat die für seine Verteidigung notwendigen Angaben zu übermitteln.[19] Im Kontext des Vertragsverletzungsverfahrens ist dies ein weiterer Ausdruck der Achtung der mitgliedstaatlichen Souveränität. Außerdem grenzt das Mahnschreiben den erst mit der Klageerhebung entstehenden prozessualen Streitgegenstand vor dem EuGH ein. Das Mahnschreiben enthält zwingend drei Angaben: die schriftliche Mitteilung der Tatsachen, nach denen die Kommission eine Unionsrechtsverletzung begründet, die Ankündigung, dass aufgrund dieser Tatsachen das formale Anhörungsverfahren im Rahmen der Aufsichtsklage eingeleitet wurde, und die Aufforderung, zu den erhobenen Vorwürfen der Kommission innerhalb einer gesetzten Frist Stellung zu beziehen.[20]
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Im Hinblick auf die später erfolgende begründete Stellungnahme kann für das Mahnschreiben wohl noch keine ausführliche Darlegung verlangt werden. Dennoch sollte der Unionsrechtsverstoß nicht nur in tatsächlicher Hinsicht, sondern vor allem in rechtlicher Hinsicht bereits substantiiert vorgetragen werden. Grundsätzlich muss die Kommission zumindest auf die einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts verweisen, die der Mitgliedstaat ihrer Ansicht nach verletzt.[21]
Beispiel:
Im Juni 2015 kündigte die Kommission in einem Mahnschreiben an, das formale Anhörungsverfahren im Rahmen einer Aufsichtsklage gegen Deutschland einzuleiten. Laut der Kommission hätte die Einführung der Pkw-Maut bei gleichzeitiger Senkung der Kfz-Steuer für deutsche Kfz-Halter de facto dazu geführt, dass Gebühren in diskriminierender Weise nur für ausländische Kraftfahrzeughalter anfielen. Das deutsche Verkehrsministerium argumentierte hingegen, dass alle Pkw-Halter eine Infrastrukturabgabe leisten müssten. Der Union seien nicht die entsprechenden Kompetenzen übertragen worden, um auf die deutsche Steuererhebung derart einzuwirken.[22]
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Nach Art. 258 AEUV muss mit dem Mahnschreiben keine Frist zur Stellungnahme gesetzt werden. Damit der betroffene Mitgliedstaat einschätzen kann, wann frühestens mit der Versendung der begründeten Stellungnahme der Kommission zu rechnen ist, sollte das Mahnschreiben dennoch aus Gründen der Rechtssicherheit mit einer Frist versehen werden. In der Praxis beträgt diese Frist üblicherweise zwei Monate. In dieser Zeit kann der Mitgliedstaat sich in einer begründeten Gegendarstellung zu den Vorwürfen der Kommission äußern, muss dies aber nicht tun.
b) Die begründete Stellungnahme der Kommission
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Danach bestimmt die Kommission den weiteren Verfahrensablauf. Überzeugt der betroffene Mitgliedstaat die Kommission mit seiner Gegendarstellung von der Unionsrechtmäßigkeit seiner Maßnahmen, stellt die Kommission das Verfahren ein. Die Kommission beschließt, das Verfahren auszusetzen, wenn der Mitgliedstaat den Vertragsverstoß eingesteht und bereit ist, seine Maßnahmen unverzüglich in Einklang mit dem Unionsrecht zu bringen. Falls der Mitgliedstaat das Mahnschreiben unkommentiert lässt oder die Unionsrechtswidrigkeit seines Verhaltens bestreitet, kann die Kommission eine begründete Stellungnahme abgeben. In der Praxis kommt es nur in ca. 20 Prozent der Verfahren zur Abgabe einer solchen Stellungnahme. 80 Prozent der Verfahren können hingegen im Vorfeld außergerichtlich geregelt werden.[23] Nach der Rechtsprechung des EuGH muss sowohl über die Abgabe der begründeten Stellungnahme als auch über die Klageeinreichung von der Kommission als Kollegialorgan in gemeinschaftlicher Beratung beschlossen werden.[24]
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Die begründete Stellungnahme muss nach Art. 258 II AEUV eine Frist enthalten, innerhalb derer der Mitgliedstaat den Unionsrechtsverstoß abstellen soll. In der Praxis beträgt die Frist ebenfalls zwei Monate; im Einzelfall kann sie allerdings verkürzt oder verlängert werden.[25]
Beispiel:
Im oben genannten Streit zwischen der Kommission und Deutschland über die Einführung der Pkw-Maut hat die Kommission im April 2016 eine begründete Stellungnahme abgegeben. Im Herbst 2016 teilte die Kommission mit, dass ihre grundsätzlichen Bedenken „trotz zahlreicher Kontakte mit den deutschen Behörden“ nicht ausgeräumt wurden. Zunächst