Verfassungsprozessrecht. Christian Hillgruber
396, 408; 6, 300, 304; 40, 88, 93) beschränkt sich auf die Kontrolle der Einhaltung der Verfassung; diese Kontrolle muss es allerdings, wenn es in zulässiger Weise angerufen wird, auch wahrnehmen; ihr darf es sich nicht in falsch verstandenem judicial self-restraint (siehe dazu Rn 46) entziehen.
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Angesichts der dem BVerfG gestellten Aufgabe gerichtsförmiger Rechtskontrolle potenziell sämtlichen dem Staat zurechenbaren Handelns und Unterlassens am Maßstab der Verfassung treffen das GG und das BVerfGG Vorkehrungen dafür, dass die Richter des BVerfG eine Unabhängigkeit gewährleistende Distanz gegenüber den von ihnen kontrollierten Gewalten besitzen und wahren. So dürfen nach der Inkompatibilitätsvorschrift des Art. 94 Abs. 1 S. 3 GG die Mitglieder des BVerfG weder dem Bundestag, dem Bundesrat, der Bundesregierung noch entsprechenden Organen eines Landes angehören (vgl auch § 3 Abs. 3 S. 1 und 2 BVerfGG). Mit der richterlichen Tätigkeit am BVerfG ist auch eine andere berufliche Tätigkeit als die eines Lehrers des Rechts an einer deutschen Hochschule unvereinbar (§ 3 Abs. 4 S. 1 BVerfGG). Ein zum Richter des BVerfG gewählter Beamter oder Richter scheidet grundsätzlich mit der Ernennung aus seinem bisherigen Amt aus (§ 101 Abs. 1 S. 1 BVerfGG). Neben diesen abstrakten Sicherungsvorkehrungen greifen gegebenenfalls noch der konkrete Ausschluss vom Richteramt nach § 18 BVerfGG und die Richterablehnung wegen Befangenheit (§ 19 BVerfGG) ein[5].
§ 1 Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge der Bundesrepublik Deutschland › II. Das Bundesverfassungsgericht – ein Verfassungsorgan?
II. Das Bundesverfassungsgericht – ein Verfassungsorgan?
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Das BVerfG hat sich über seine unbestrittene Gerichtsqualität hinaus in der berühmten „Status-Denkschrift“ vom 27. Juni 1952[6] selbst den Status eines Verfassungsorgans attestiert[7]. Davon geht implizit auch das BVerfGG aus, wenn es ihm in § 1 Abs. 1 Selbstständigkeit und Unabhängigkeit gegenüber „allen übrigen Verfassungsorganen“ zuschreibt[8]. Auch der verfassungsändernde Gesetzgeber hat die vom BVerfG erstrittene Stellung des BVerfG anerkannt, wie aus der amtlichen Begründung zur Einführung des Art. 115g GG hervorgeht, der jedwede Beeinträchtigung der „verfassungsmäßige[n] Stellung“ des BVerfG im Verteidigungsfall untersagt[9]. Die Status-Denkschrift hat mit der Rolle des BVerfG als „oberstem Hüter der Verfassung“ argumentiert. Das BVerfG sei insoweit „nach Wortlaut und Sinn des Grundgesetzes und des Gesetzes über das BVerfG zugleich ein mit höchster Autorität ausgestattetes Verfassungsorgan, in eine ganz andere Ebene als alle anderen Gerichte gerückt“. Ausdruck des besonderen organisatorischen Status des BVerfG sind seine – seit 1986 ausdrücklich anerkannte (vgl § 1 Abs. 3 BVerfGG) – Geschäftsordnungsautonomie, seine Ressortfreiheit, die herausgehobene protokollarische Stellung seines Präsidenten sowie schließlich sein Recht auf Beteiligung bei der Aufstellung des Entwurfs des Bundeshaushaltsplans durch Voranschläge des Präsidenten (vgl § 28 Abs. 3 BHO) und auf autonome Bewirtschaftung der bewilligten und in einem eigenen Einzelplan ausgewiesenen Haushaltsmittel.
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Ob das BVerfG aufgrund dieses Status auf einer Ebene mit den anderen, von ihm kontrollierten Verfassungsorganen oder im Hinblick auf seine Kontrollbefugnis gar über diesen Staatsorganen steht[10], ist eine Frage der Definition. Entscheidend ist, dass die Redeweise vom BVerfG als Verfassungsorgan nichts anderes bedeuten kann als den Versuch, die dem BVerfG zugewiesenen Kompetenzen auf einen als Abbreviatur fungierenden Begriff zu bringen[11]. Dagegen dürfen aus dem so, also induktiv gewonnenen Begriff weitere Rechtsfolgen, insbesondere zusätzliche Kompetenzen des BVerfG nicht deduziert werden. Eine solche Ableitung wäre nichts anderes als unzulässige und irreführende Begriffsjurisprudenz.
§ 1 Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge der Bundesrepublik Deutschland › III. Das Bundesverfassungsgericht als maßgeblicher Letztinterpret des Grundgesetzes: Hüter oder Herr der Verfassung?
III. Das Bundesverfassungsgericht als maßgeblicher Letztinterpret des Grundgesetzes: Hüter oder Herr der Verfassung?
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Mit dem BVerfG ist ein organisatorisch selbstständiges Gericht errichtet worden, welches die Verfassung letztentscheidend mit Verbindlichkeitsanspruch interpretiert. Das BVerfG nimmt diese Kompetenz wie selbstverständlich in Anspruch (BVerfGE 108, 282, 295): „Entsprechend seiner Aufgabe, das Verfassungsrecht zu bewahren, zu entwickeln und fortzubilden […, hat es] selbst letztverbindlich über dessen Auslegung und Anwendung zu entscheiden.“ Allerdings tritt diese zentrale Funktion des BVerfG nicht unmittelbar in Erscheinung; denn das BVerfG entscheidet in erster Linie die ihm zur Entscheidung zugewiesenen, konkreten Verfassungsstreitigkeiten; es stellt die Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit des geprüften Rechtsakts mit der Verfassung fest und zieht daraus gegebenenfalls noch weitere Konsequenzen, insbesondere erklärt es mit dem GG unvereinbar befundene Gesetze und sonstige Rechtsnormen für nichtig (§§ 78 S. 1, 82 Abs. 1, 95 Abs. 3 S. 1 BVerfGG) und hebt verfassungswidrige Verwaltungsakte und Gerichtsentscheidungen auf (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). Die maßgebliche Interpretation des Grundgesetzes bildet für diesen, sich im Tenor der Entscheidung widerspiegelnden Entscheidungsinhalt lediglich die präjudizielle Vorfrage.
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Das BVerfG betreibt also keine prinzipale Verfassungsauslegung, erklärt nicht abstrakt, was Inhalt der Verfassung ist. Das gilt auch für das Organstreitverfahren ungeachtet der missverständlichen Formulierung des Art. 93 Abs. 1 Nr 1 GG. Die Streitigkeit zwischen obersten Bundesorganen oder anderen Beteiligten über den Umfang der Rechte und Pflichten, die ihnen das GG einräumt, bildet nicht lediglich den „Anlass“ für die Auslegung des Grundgesetzes, sondern den eigentlichen Prüfungsgegenstand; dementsprechend ordnet § 67 BVerfGG im Hinblick auf den Entscheidungsinhalt an, dass das BVerfG in seiner Entscheidung feststellt, ob die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners gegen eine Bestimmung des Grundgesetzes verstößt (Satz 1). Das BVerfG kann in der Entscheidungsformel zugleich eine für die Auslegung der Bestimmung des Grundgesetzes erhebliche Rechtsfrage entscheiden, von der die Feststellung gemäß Satz 1 abhängt (§ 67 S. 3 BVerfGG). Aber auch diese Rechtsfrage, über die das BVerfG hier mitentscheidet, ist mit der Interpretation des Grundgesetzes, die das BVerfG zur Beantwortung dieser Frage vornimmt, nicht identisch (s. dazu Rn 418 ff). Nichts anderes gilt für die Rechtsfragen, über die das BVerfG in den Vorlageverfahren nach Art. 100 Abs. 1 und 100 Abs. 3 GG „ausschließlich“ entscheidet (vgl §§ 81, 85 Abs. 3 BVerfGG). Von der formellen und materiellen Rechtskraft, die den nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen des BVerfG wie allen letztinstanzlichen Gerichtsentscheidungen zukommt, wird die Auslegung des Grundgesetzes, die das BVerfG vornimmt, als vorgreifliche Frage daher nicht erfasst.
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Die Verbindlichkeit der inzidenten Verfassungsauslegung durch das BVerfG folgt denn auch nicht aus der Verfassung selbst; nach Art. 20 Abs. 3 GG sind die gesetzgebende, die vollziehende und die rechtsprechende Gewalt nur an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden, nicht aber an die Auslegung dieser Ordnung durch das BVerfG (vgl BVerfGE 77, 84, 103 f). Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus Art. 93 Abs. 1 GG. Zwar weist diese Vorschrift dem BVerfG bestimmte Entscheidungszuständigkeiten zu, und wenn das BVerfG „entscheiden“ soll, dann impliziert die Anerkennung dieser Entscheidungsgewalt auch deren Verbindlichkeitsanspruch. Dieser erfasst jedoch nur die Entscheidung als solche, dh den in Rechtskraft erwachsenden Tenor der Entscheidung, nicht aber dafür vorgreifliche Verfassungsauslegungen.
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Die Verbindlichkeit der vom BVerfG vorgenommenen Auslegung des Grundgesetzes