Verfassungsprozessrecht. Christian Hillgruber
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Das Bundesverfassungsgericht übt rechtsprechende Gewalt aus (Art. 92 HS 2 GG), die Richtern anvertraut ist (Art. 92 HS 1 GG). Das BVerfGG qualifiziert daher das Bundesverfassungsgericht als einen allen übrigen Verfassungsorganen gegenüber selbstständigen und unabhängigen Gerichtshof des Bundes (§ 1 Abs. 1 BVerfGG). Die Stellung des BVerfG als Gericht bedeutet, dass aus Richtern zusammengesetzte Spruchkörper, die nur der Verfassung und dem Gesetz unterworfen sind (Art. 97 Abs. 1 GG), in ihre Zuständigkeit fallende Streitigkeiten anhand rechtlicher Maßstäbe entscheiden. Das Bundesverfassungsgericht übt wie jedes andere Gericht Rechtskontrolle aus, indem es in den ihm zur Zuständigkeit zugewiesenen Streitigkeiten das Verhalten sämtlicher anderer Staatsorgane sowie der Verwaltungsbehörden und Fachgerichte am Maßstab des Grundgesetzes – und teilweise bei Akten der Landesstaatsgewalt auch am Maßstab sonstigen Bundesrechts, das Vorrang genießt (Art. 31 GG) – entscheidet. Diese gerichtsförmige Rechtskontrolle durch das Bundesverfassungsgericht unterscheidet sich nicht prinzipiell von der anderer Gerichte. Die interpretative Sinnentfaltung des Grundgesetzes stellt zwar angesichts dessen regelmäßiger Wortkargheit und der relativen Unbestimmtheit der verwandten Rechtsbegriffe wohl eine noch anspruchsvollere Aufgabe als die der Gesetzesauslegung und -anwendung dar. Dies macht den Vorgang – anders als Carl Schmitt gemeint hat – aber noch nicht notwendig zu politischer Dezision, auch wenn die Prüfungsgegenstände selbst nicht selten politischer, ja hochpolitischer Natur sind und die Einleitung und Durchführung des verfassungsgerichtlichen Verfahrens, erst recht aber seine rechtlichen und tatsächlichen Auswirkungen, auch politischer Natur sind. Die Aufgabe des BVerfG bleibt dessen ungeachtet die eines Gerichts.
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Die Beschränkung der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht auf eine Kontrolle der Grundrechtskonformität von Akten öffentlicher Gewalt macht das Bundesverfassungsgericht im Verfassungsbeschwerdeverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr 4a GG) gegenüber der zwecks Erschöpfung des Rechtswegs vom Beschwerdeführer grundsätzlich zunächst anzurufenden Fachgerichtsbarkeit genau zu jenem, eine auf die mögliche Verletzung der Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte beschränkte Rechtmäßigkeitskontrolle durchführenden „Superrevisionsgericht“, welches das Bundesverfassungsgericht nach eigenem Bekunden nicht sein will (BVerfGE 7, 198, 207). Indem das BVerfG die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Tatbestandes, die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall allein zur Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte und seiner eigenen Nachprüfung entzogen erklärt hat (BVerfGE 18, 85, 92), weist es lediglich die Rolle eines „Superberufungsgerichts“ von sich. Entgegen seinem erklärten Selbstverständnis unterzieht es allerdings doch immer wieder einmal Streitgegenstände einer umfassenden tatsächlichen und rechtlichen Prüfung und geriert sich damit wie ein Berufungsgericht.
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Es entspricht dem Gerichtscharakter des BVerfG, dass es nur auf Antrag entscheidet (vgl zum Antragsgrundsatz § 23 Abs. 1 S. 1 BVerfGG) und grundsätzlich nur über den Gegenstand, den der Antrag vorgibt (vgl BVerfGE 2, 347, 367 f; 73, 1, 28 – Organstreit; 93, 121, 151 f – SV Böckenförde; zur Möglichkeit nachträglicher Beschränkung siehe BVerfGE 126, 1, 17 f)[1]. Auch für das BVerfG gilt also grundsätzlich: wo kein Kläger, da kein Richter. Die Antragsabhängigkeit des Tätigwerdens des BVerfG erfährt zwei bedeutende Einschränkungen: Zum einen hält es sich ohne nähere Begründung für befugt, auch von Amts wegen eine vorläufige Regelung eines streitbefangenen Rechtsverhältnisses durch Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 32 Abs. 1 BVerfGG zu erlassen (BVerfGE 1, 74, 75; 1, 281, 282 f; 42, 103, 119 f; 46, 337, 338; 112, 284, 293; 140, 211, 224)[2]. Zum anderen ist das BVerfG im – dem Individualrechtsschutz dienenden – Verfassungsbeschwerdeverfahren und im kontradiktorischen Organstreitverfahren dazu übergegangen, nach Antragsrücknahme bei Bestehen eines von ihm selbst festzustellenden „objektiven“ Klärungsbedürfnisses noch in der Sache zu entscheiden (BVerfGE 1, 396, 414 f; 24, 299, 300; 98, 218, 242 f; 106, 210, 213)[3]. Damit ist die Dispositionsmaxime aufgehoben und das Antragserfordernis in seiner Bedeutung auf eine Anstoßfunktion reduziert. Mit der Verfahrenseinleitung durch Antragstellung geht die Herrschaft über das Verfahren (vgl Rn 21 ff) auf das BVerfG über.
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Die Tatsache, dass das BVerfG nicht von sich aus initiativ werden, sondern nur nachträglich kontrollieren kann, bedeutet jedoch nicht notwendig, dass es nur reagieren, nicht auch gestalterisch agieren könnte. So verhält es sich beispielsweise, wenn es im verfassungsgerichtlichen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes durch Erlass einer einstweiligen Anordnung eine bis zur Hauptsacheentscheidung verbindliche Interimsregelung trifft, die rechtsgestaltende Wirkung entfaltet. Auch mit seinen Hauptsacheentscheidungen hat das BVerfG einen nicht lediglich negatorisch definierten Anteil an der Ausübung der übrigen Staatsgewalten. Zwar kann es im Organstreitverfahren und im Bund-Länder-Streitverfahren nur die Verfassungswidrigkeit der beanstandeten Maßnahme feststellen, im Verfassungsbeschwerde- und Normenkontrollverfahren jedoch auch Maßnahmen der Exekutive, Judikative und selbst Gesetzgebungsakte aufheben. Es hat darüber hinaus sich selbst, unter Berufung auf § 35 BVerfGG, die Befugnis zugeschrieben, in Ausübung seiner reklamierten Letztverantwortung für die Durchsetzung der Verfassung den Gesetzgeber unter Setzung einer Frist, nach deren fruchtlosen Verstreichen eine von ihm selbst dekretierte Regelung maßgeblich sein soll, zur Behebung des Verfassungsverstoßes ultimativ anzuweisen (s. dazu Rn 28 ff).
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Das Fehlen einer eigenen Initiativbefugnis hat den Aktionsradius des BVerfG im Übrigen bisher nicht wirklich entscheidend eingeengt. Es hat sich fast immer noch ein Staatsorgan, ein Teil desselben oder aber jedenfalls ein Bürger gefunden, der das BVerfG mit dem Ziel der Klärung der verfassungsrechtlichen Rechtslage angerufen hat. So sind praktisch alle hochpolitischen Streitfragen, die die Republik bewegt haben, in mehr oder minder großem Umfang zur Nachprüfung durch das BVerfG gestellt worden. Durch kontinuierliche Rechtsprechung kann das BVerfG auch mehr als bloß punktuell intervenieren, vielmehr ganze Rechtsgebiete (zB das Familien-, Steuer- und Sozialrecht) nach seinem maßgeblichen verfassungsrechtlichen Willen (um-)gestalten.
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Die jüngere Praxis des BVerfG (vgl E 104, 305, 306 f), den Streitparteien Vorschläge für eine außergerichtliche Streitbeilegung („einvernehmliche Verständigung“) zu unterbreiten, die den Antragsteller veranlassen sollen, den gestellten Antrag zurückzunehmen bzw die Voraussetzungen dafür schaffen sollen, dass die Beteiligten verfahrensbeendende Erklärungen (übereinstimmende Erledigungserklärungen) abgeben, sieht sich – ungeachtet der Tatsache, dass eine Antragsrücknahme in allen Verfahren möglich ist (zu Einschränkungen beim abstrakten Normenkontrollverfahren s. § 6) – erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt[4]. Verfassungsrecht ist zwingendes Recht; die durch das GG gebundene Staatsgewalt (Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG) darf von den ihr auferlegten verfassungsrechtlichen Bindungen nicht dispensiert werden. Daher eignet sich die Verfassung nicht für einen Deal. Das selbst der Verfassung unterworfene BVerfG darf zu einer solchen verfassungsrechtlichen Entbindung nicht beitragen, auch nicht dadurch, dass es durch mehr oder weniger sanften Druck einen Antragsteller dazu bewegt, sich mit weniger zufrieden zu geben als verfassungsrechtlich geschuldet ist und daher vom BVerfG bei einer Entscheidung in der Sache zugesprochen werden müsste. Daher käme ein „Vergleichsvorschlag“ des BVerfG, bei dessen Annahme der Überprüfungsantrag zurückgenommen wird, überhaupt nur dann in Betracht, wenn und soweit der Antrag unbegründet ist, also der „verklagten“ Staatsgewalt der gerügte Verfassungsverstoß tatsächlich nicht zur Last fällt. Dann aber darf sich das BVerfG nicht dem Vorwurf der Parteilichkeit aussetzen, weil es dem Antragsteller durch die dem Antragsgegner praktisch aufgenötigte außergerichtliche Einigung mehr gibt als dieser verfassungsrechtlich beanspruchen kann. Das BVerfG spielt sich mit solchem Verhalten als Moderator des