Verfassungsprozessrecht. Christian Hillgruber
c) „Ausbau“ des Art. 38 GG zum „Anspruch auf Demokratie“
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Zu hinterfragen ist auch der in den letzten Jahren konsequent betriebene Ausbau des Art. 38 GG zum „Anspruch des Bürgers auf Demokratie“ (BVerfGE 129, 124, 169; seit BVerfGE 135, 317, 386 nur noch in Anführungszeichen)[10], der in der Maastricht-Entscheidung bereits angedeutet (BVerfGE 89, 155, 171 f), in der Lissabon-Entscheidung expliziert (BVerfGE 123, 267, 330 u. 331), im EFS-Urteil gegen Kritik verteidigt (BVerfGE 129, 124, 168 f) und in der Einstweiligen Anordnung zum ESM-Vertrag (BVerfGE 132, 195, 238), im OMT-Beschluss (BVerfGE 134, 366, 396 f), im ESM-Urteil (BVerfGE 135, 317, 386), im OMT-Urteil (142, 123, 219) und im Urteil zur Europäischen Bankenunion (BVerfG, 2 BvR 1685/14 vom 30.7.2019, Abs.-Nrn 92 u. 205 f) bekräftigt wurde[11].
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Die gegen das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon erhobenen Verfassungsbeschwerden erachtete das BVerfG für zulässig, „soweit mit ihnen auf der Grundlage von Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG eine Verletzung des Demokratieprinzips, ein Verlust der Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland und eine Verletzung des Sozialstaatsprinzips gerügt wird“ (BVerfGE 123, 267, 328): Die Wahlberechtigten besäßen nach dem Grundgesetz das Recht, „über die Ablösung des Grundgesetzes ‚in freier Entscheidung‘ zu befinden“. Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG gewährleiste „das Recht, an der Legitimation der verfassten Gewalt mitzuwirken und auf ihre Ausübung Einfluss zu nehmen. […] Es ist allein die verfassungsgebende Gewalt, die berechtigt ist, den durch das Grundgesetz verfassten Staat freizugeben, nicht aber die verfasste Gewalt“ (BVerfGE 123, 267, 331 f).
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Mit gewisser Konsequenz wird nun geltend gemacht, dass das so verstandene Recht jedes wahlberechtigten Bürgers auf Teilhabe an der verfassungsgebenden Gewalt aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG iVm Art. 146 GG bei jeder Verletzung des Art. 79 Abs. 3 GG verletzt sein müsse, da der verfassungsändernde Gesetzgeber damit in verfassungswidriger Weise in die verfassungsgebende Gewalt eingreife: „Führt man den systematischen Ansatz des BVerfG zu Ende, dann kann daher unter Berufung auf Art. 38 Abs. 1 GG jede Verletzung der Schutzgüter des Art. 79 Abs. 3 GG mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden – nicht nur die Verletzung des Demokratieprinzips, sondern auch die Verletzung der übrigen unabänderlichen Verfassungsprinzipien.“[12] Wortlaut und Gewährleistungsgehalt des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG werden auch dann gründlich überdehnt, wenn das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag nur zum „Anspruch auf Demokratie“ im Sinne eines Schutzes vor Berührung der nach Art. 79 Abs. 3 GG verfassungsänderungsfesten demokratischen Grundsätze und gegenüber offensichtlichen und strukturell bedeutsamen Kompetenzüberschreitungen durch die Europäischen Organe (so zuletzt BVerfG, 2 BvR 1685/14 vom 30.7.2019, Abs.-Nr 92) ausgebaut wird[13]. Auch die normative Verankerung dieses bürgerexklusiven Anspruchs in der Würde des Menschen (BVerfGE 123, 267, 341; 129, 124, 169) wirft Fragen auf.
§ 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze › III. Die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts im Überblick
III. Die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts im Überblick
§ 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze › III. Die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts im Überblick › 1. Organstreitverfahren
1. Organstreitverfahren
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Gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr 1 GG entscheidet das BVerfG „über die Auslegung dieses Grundgesetzes aus Anlass von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter, die durch dieses GG oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind.“ Der Gesetzgeber hat diese Zuständigkeit zur Entscheidung anlässlich solcher „Streitigkeiten“ als kontradiktorisches Organstreitverfahren ausgestaltet (§§ 13 Nr 5, 63–67 BVerfGG): Bundespräsident, Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung und die im GG oder in den Geschäftsordnungen des Bundestages und des Bundesrates mit eigenen Rechten ausgestatteten „Teile“ wie bspw Fraktionen (§ 63 BVerfGG) können sich in diesem Verfahren, dessen Gegenstand regelmäßig hochpolitische Fragen sind, gegen eine Verletzung ihrer Rechte durch eine Maßnahme oder pflichtwidrige Unterlassung des Antragsgegners zur Wehr setzen (§ 64 BVerfGG). Auf einen zulässigen Antrag hin – die behauptete Rechtsverletzung darf nicht von vornherein ausgeschlossen sein, der Antrag muss binnen sechs Monaten gestellt werden – stellt das BVerfG fest, „ob die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners gegen eine Bestimmung des Grundgesetzes verstößt“ (§ 67 S. 1 BVerfGG). Der in § 63 BVerfGG genannte Kreis möglicher Antragsteller und Antragsgegner ist gemessen an Art. 93 Abs. 1 Nr 1 GG zu eng geraten und daher verfassungswidrig (vgl Rn 421 ff). Nach ständiger und zutreffender Rechtsprechung des BVerfG können daher beispielsweise auch politische Parteien ihre Rechte aus Art. 21 GG im Organstreitverfahren durchsetzen.
§ 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze › III. Die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts im Überblick › 2. Abstrakte Normenkontrolle
2. Abstrakte Normenkontrolle
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Gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr 2 GG entscheidet das BVerfG bei „Meinungsverschiedenheiten oder Zweifeln“ über die Verfassungsmäßigkeit von Bundes- und Landesrecht auf Antrag der Bundesregierung, einer Landesregierung oder eines Viertels der Mitglieder des Bundestages. Der Gesetzgeber hat das abstrakte Normenkontrollverfahren ausgestaltet (§ 13 Nr 6, §§ 76–79 BVerfGG). Soweit er für die Zulässigkeit des Antrags Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von Bundes- oder Landesrecht nicht ausreichen lässt, sondern verlangt, dass der Antragsteller die Norm für nichtig bzw im Falle der beantragten Normbestätigung für gültig halten muss, nachdem Gerichte, Verwaltungsbehörden oder Organe von Bund und Ländern die von ihnen als verfassungswidrig erkannte Norm nicht angewendet haben, verlangt er – verfassungsrechtlich unbedenklich und von der Ermächtigung des Art. 94 Abs. 2 S. 1 GG gedeckt – als Voraussetzung für die Zulässigkeit des Antrags das Vorliegen eines sog. objektiven Klarstellungsinteresses. Die Autorität des parlamentarischen Gesetzgebers soll nicht ohne Not in Frage gestellt werden.
§ 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze › III. Die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts im Überblick › 3. Kompetenzkontroll- und Kompetenzfreigabeverfahren
3. Kompetenzkontroll- und Kompetenzfreigabeverfahren
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In Art. 93 Abs. 1 Nr 2a und in Art. 93 Abs. 2 GG sind zwei prozessrechtliche Sonderfälle der abstrakten Normenkontrolle geregelt, die materiellrechtlich als Spezialformen des Bund-Länder-Streitverfahrens verstanden werden können[14]. Nach Art. 93 Abs. 1 Nr 2a GG entscheidet das BVerfG bei Meinungsverschiedenheiten, ob ein Gesetz den Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG entspricht, auf Antrag des Bundesrates, einer Landesregierung oder der Volksvertretung eines Landes (Kompetenzkontrollverfahren). Der Prüfungsmaßstab dieses Verfahrens ist enger, der Kreis der Antragsberechtigten weiter als bei der abstrakten Normenkontrolle. Dadurch wird die Stellung der Landesparlamente, um deren Gesetzgebungskompetenzen es ja geht, gegenüber der jeweiligen Exekutive gestärkt[15]. Die Entscheidungswirkungen sind identisch: Ein nicht (mehr) im Sinne des Art. 72 Abs. 2 GG „erforderliches“ Bundesgesetz wird vom BVerfG gem. § 78 BVerfG für nichtig erklärt.
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