Verfassungsprozessrecht. Christian Hillgruber
von Vereinigungen gegen ihre Nichtanerkennung als Partei für die Wahl zum Bundestag“. Im 17. Abschnitt des BVerfGG finden sich ergänzende Regelungen (§§ 96a–96d BVerfGG).[20] Sie zeigen, dass es sich bei der Nichtanerkennungsbeschwerde um ein „besonders beschleunigt zu betreibendes Hauptsacheverfahren“[21] handelt: Vereinigungen und Parteien, denen die Anerkennung als wahlvorschlagsberechtigte Partei nach § 18 Abs. 4 BWG versagt wurde, haben nach der mündlichen Bekanntgabe der ablehnenden Entscheidung in der Sitzung des Bundeswahlausschusses vier Tage Zeit, dagegen Beschwerde zu erheben und diese bestmöglich[22] zu begründen. Der Gesetzgeber hat bewusst darauf verzichtet, dem Bundesverfassungsgericht eine Frist für seine Entscheidung vorzugeben, da er davon ausging, dass das Gericht auch ohne eine solche „innerhalb des Zeitraums, den das Wahlverfahren für die Korrektur der Entscheidung des Bundeswahlausschusses zur Parteieigenschaft lässt, effektiven Rechtsschutz gewähren“ werde[23], wozu es nach Art. 19 Abs. 4 GG verpflichtet ist.
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Das Zeitfenster, das für das Verfahren zur Verfügung steht, ist aus wahlorganisatorischen Gründen ausgesprochen kurz: Nach § 18 Abs. 4 S. 1 BWG muss der Bundeswahlausschuss die den Beschwerdegegenstand bildende Entscheidung spätestens am 79. Tage vor der Wahl getroffen haben, und die beschwerdeführende Partei oder Vereinigung ist nach § 18 Abs. 4a S. 2 BWG längstens bis zum Ablauf des 59. Tages vor der Wahl wie eine wahlvorschlagsberechtigte Partei zu behandeln. Somit stehen für das gesamte Verfahren nur 20 Tage zur Verfügung, dem Bundesverfassungsgericht wegen der sehr kurz bemessenen Antragsfrist mindestens 16[24]. Es kann im Interesse der Verfahrensbeschleunigung ohne mündliche Verhandlung entscheiden und seine Entscheidung auch zunächst ohne Begründung bekannt geben („bloße Tenorverkündung“), was sonst nur im Verfahren der einstweiligen Anordnung möglich ist, deren Erlass hier ausgeschlossen ist, da für sie vor dem zeitlichen Hintergrund dieses besonders beschleunigten Verfahrens „weder Raum noch Bedürfnis“ besteht.[25]
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Als unzulässig „verworfen“ wird eine Nichtzulassungsbeschwerde u.a. dann, wenn die Beschwerdeführerin die Teilnahme an der Wahl (auch) aus anderen Gründen nicht mehr erreichen kann (BVerfGE 134, 122, 123). Nicht gesetzlich geregelt ist, wie der Tenor im Falle einer begründeten Beschwerde lautet. Der Gesetzgeber, der das Verfahren als Möglichkeit beschreibt, das Bundesverfassungsgericht zur „Klärung [d]es Parteienstatus“ anzurufen[26], ging wohl davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht im Erfolgsfalle nicht nur die Entscheidung des Bundeswahlausschusses aufhebt, sondern die begehrte Anerkennung als wahlvorschlagsberechtigte Partei gleich selbst ausspricht, wie es das Bundesverfassungsgericht bereits getan hat (BVerfGE 134, 124) und was die Literatur mehrheitlich für richtig hält.[27]
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Eingeführt wurde das Verfahren zur Schließung einer schon seit längerer Zeit beklagten[28] und auch von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in ihrem Bericht zur Bundestagswahl 2009 beanstandeten[29] Rechtsschutzlücke: Nach bisherigem Recht und der bisherigen Rechtsprechung[30] konnten Entscheidungen des Bundeswahlausschusses nach § 18 Abs. 4 BWG – anders als andere Entscheidungen der Wahlbehörden – erst nach der Wahl mit der Wahlprüfungsbeschwerde (und daher nur eingeschränkt, siehe Rn 934 ff), aber nicht im Vorfeld derselben gerichtlich überprüft werden.
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Soweit Kritik an dem Verfahren geübt wird (vgl dazu auch Rn 981 ff), betrifft sie hauptsächlich die Frage, ob das Verfahren, in dem das Bundesverfassungsgericht in erster Linie als Tatsacheninstanz tätig wird, wie schon die zwölf Beschlüsse vom 23. Juli 2013 in aller Deutlichkeit belegen[31], „nicht doch besser bei den Verwaltungsgerichten aufgehoben gewesen wäre“[32], vorzugsweise – wie schon früher vorgeschlagen[33] – beim BVerwG. Am 25. Juli 2017 hat das BVerfG weitere sieben Nichtanerkennungsbeschwerden verworfen, sechs davon als unzulässig, eine als jedenfalls unbegründet.[34]
§ 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze › III. Die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts im Überblick › 8. Weitere im Grundgesetz geregelte Zuständigkeiten
8. Weitere im Grundgesetz geregelte Zuständigkeiten
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Art. 93 Abs. 1 Nr 5 GG verweist auf „die übrigen in diesem Grundgesetze vorgesehenen Fälle“. Einen guten Überblick darüber, um welche Fälle es sich hier handelt, gibt der Katalog des § 13 BVerfGG[35]. Zu nennen sind beispielsweise das Parteiverbotsverfahren (Art. 21 Abs. 2 GG, § 13 Nr 2 BVerfGG) und das Verfahren über den Ausschluss von Parteien von staatlicher Finanzierung (Art. 21 Abs. 3 GG, § 13 Nr 2a BVerfGG)[36], die Präsidentenanklage (Art. 61 GG, § 13 Nr 4 BVerfGG), vor allem aber die Zuständigkeit zur Entscheidung über die Vereinbarkeit eines Bundes- oder Landesgesetzes mit dem GG auf Vorlage eines Gerichts (Art. 100 Abs. 1 GG, § 13 Nr 11 BVerfGG). Der Gesetzgeber hat das in der Praxis sehr bedeutsame konkrete Normenkontrollverfahren in den §§ 80–82 BVerfGG näher ausgestaltet, wobei in § 82 Abs. 1 BVerfGG die entsprechende Anwendung der für das abstrakte Normenkontrollverfahren geltenden §§ 77–79 BVerfGG angeordnet wird.
§ 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze › III. Die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts im Überblick › 9. Einfachgesetzlich geregelte Zuständigkeiten
9. Einfachgesetzlich geregelte Zuständigkeiten
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Aus Art. 93 Abs. 3 GG ergibt sich, dass der Bundesgesetzgeber dem BVerfG weitere Zuständigkeiten zuweisen kann. Das ist beispielsweise geschehen durch § 36 Abs. 2 PUAG (§ 13 Nr 11a BVerfGG, Verfahrensregelungen finden sich in 82a BVerfGG). Bedeutsam ist auch die Zuständigkeit des BVerfG zur Entscheidung über das Verbot der Ersatzorganisation einer verbotenen Partei (§ 33 Abs. 2 PartG). Eher exotisch, aber bereits einmal relevant geworden ist die in § 24 des Gesetzes über das Verfahren bei Volksentscheid, Volksbegehren und Volksbefragung nach Art. 29 Abs. 6 des Grundgesetzes vom 30. Juli 1979 (BGBl I, 1317) geregelte Zuständigkeit des Zweiten Senats des BVerfG zur Entscheidung über Beschwerden gegen die Ablehnung oder die Zulassung von Anträgen auf Durchführung eines Volksbegehrens (vgl BVerfGE 96, 139 ff).
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Neu hinzugekommmen sind in den letzten Jahren ua die Verzögerungsrüge, mittels derer Verfahrensbeteiligte nun auch eine etwaige überlange Verfahrensdauer vor dem Bundesverfassungsgericht rügen können, und die anschließend zu erhebende Verzögerungsbeschwerde, über die die aus zwei Richtern des Bundesverfassungsgerichts bestehende Beschwerdekammer entscheidet und die, soweit sie zulässig und begründet ist, Entschädigung und Wiedergutmachung zuspricht (§§ 97a–97e BVerfGG).[37] Ferner wurde 2013[38] der Rechtsschutz in Wahlsachen bei der Europawahl dahingehend angeglichen, dass auch gegen die Zurückweisung von Wahlvorschlägen zur Europawahl wegen fehlenden Vorschlagsrechts gem. § 14 Abs. 4a S. 1 EuWG die Nichtanerkennungsbeschwerde zum BVerfG eröffnet ist.[39] Der 2017 neu eingeführte § 17a Abs. 4 BVerfGG schließlich eröffnet Betroffenen die Möglichkeit, gegen die in § 17a BVerfGG vorgesehenen Anordnungen des Vorsitzenden den Senat anzurufen. In der Literatur wird mit Recht vorgeschlagen, die Anrufung des Senats auch zur Überprüfung sitzungspolizeilicher Maßnahmen und der Entscheidung von Akteneinsichtsgesuchen zuzulassen.[40]
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Die Ermächtigung des Art. 93 Abs. 3 GG ist zwar nicht auf die Zuweisung verfassungsrechtlicher Streitigkeiten beschränkt (offen BVerfGE 31, 371, 377). Man wird jedoch aus den Art. 92, 95 und 99 GG schließen können, dass der Bundesgesetzgesetzgeber dem BVerfG weder die letztinstanzliche Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten am Maßstab des einfachen Rechts noch Landesverfassungsstreitigkeiten