Verfassungsprozessrecht. Christian Hillgruber
Antrag des Bundesrates, einer Landesregierung oder der Volksvertretung eines Landes, ob im Falle des Artikels 72 Abs. 4 GG die Erforderlichkeit für eine bundesgesetzliche Regelung nach Art. 72 Abs. 2 GG nicht mehr besteht oder Bundesrecht in den Fällen des Artikels 125a Abs. 2 S. 1 GG nicht mehr erlassen werden könnte (Kompetenzfreigabeverfahren). Durch dieses Verfahren wird den Ländern die Möglichkeit eröffnet, das BVerfG anzurufen, wenn entsprechende Bundesgesetze nicht zustandekommen: Die Entscheidung des BVerfG ersetzt entsprechende Bundesgesetze gem. Art. 93 Abs. 2 S. 2 GG.[16]
77
Da Rechtsprechung (vgl zB BVerfGE 107, 133, 142 ff) und Literatur[17] davon ausgehen, dass Rechtsnormen nachträglich unwirksam werden können, ergeben sich Überschneidungen dieses Verfahrens mit dem Kompetenzkontrollverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr 2a GG: Ein nicht mehr im Sinne des Art. 72 Abs. 2 GG „erforderliches“ Bundesgesetz wird verfassungswidrig und kann in diesem Verfahren für nichtig erklärt werden, so dass der Antrag nach Art. 93 Abs. 1 Nr 2a GG die Anwendung des Art. 93 Abs. 2 GG in der Praxis vielfach verdrängen wird. Der eigentliche Anwendungsbereich des Kompetenzfreigabeverfahrens sind die Bundesgesetze, die auf Grund des Art. 72 Abs. 2 GG in der bis zum 15. November 1994 geltenden Fassung erlassen wurden und der damaligen Bedürfnisklausel entsprachen: Sie wurden gem. Art. 125a Abs. 2 S. 1, 2 GG durch die „Verschärfung“ des Art. 72 Abs. 2 GG im Jahr 1994[18] nicht verfassungswidrig, sondern gelten bis zu einer bundesgesetzlichen „Freigabe“ weiter[19]. Erfolgt diese nicht, kann sie nur durch eine Entscheidung des BVerfG nach Art. 93 Abs. 2 GG ersetzt werden.
§ 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze › III. Die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts im Überblick › 4. Bund-Länder-Streitverfahren
4. Bund-Länder-Streitverfahren
78
Zuständig ist das BVerfG gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr 3 GG auch für die Entscheidung über die Rechte und Pflichten von Bund und Ländern. Der Gesetzgeber hat als Antragsteller und Antragsgegner im Bund-Länder-Streitverfahren nur Bundes- und Landesregierungen, jeweils „für den Bund“ oder „für ein Land“ zugelassen (§ 13 Nr 7 BVerfGG, § 68 BVerfGG). Im Übrigen verweist er auf die Regelungen für das Organstreitverfahren (§ 69 iVm §§ 64–67 BVerfGG). Daraus ergibt sich, dass auch hier „Meinungsverschiedenheiten“ nicht ausreichen, sondern dass der Antragsteller die Möglichkeit der Verletzung oder unmittelbaren Gefährdung seiner Rechte, die zugleich Pflichten sind, durch eine Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners dartun muss.
§ 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze › III. Die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts im Überblick › 5. Weitere föderative Streitigkeiten
5. Weitere föderative Streitigkeiten
79
Gleich mehrere Zuständigkeiten werden dem BVerfG in Art. 93 Abs. 1 Nr 4 GG zugewiesen. Es soll entscheiden über „andere öffentlich-rechtliche Streitigkeiten“ zwischen Bund und Ländern (1. Variante, nichtverfassungsrechtliches Bund-Länder-Streitverfahren), zwischen verschiedenen Ländern (2. Variante, Länder-Streitverfahren) oder innerhalb eines Landes (3. Variante, Landesstreitigkeit) – dies aber nur, soweit nicht ein anderer Rechtsweg gegeben ist. Die Subsidiaritätsklausel (die sich auf alle drei Varianten bezieht) hat eine doppelte Stoßrichtung: Eine Entscheidung des BVerfG in einer der genannten Verfahrensarten kommt nicht in Betracht, wenn die Zuständigkeit des BVerfG anderweitig begründet ist. Sie kommt auch nicht in Betracht, wenn die Streitigkeit durch Gesetz einem anderen Gericht – in erster Linie die Landesverfassungsgerichte, aber auch die Verwaltungsgerichte – zugewiesen ist.
80
Die praktische Bedeutung der in Art. 93 Abs. 1 Nr 4 GG geregelten Entscheidungszuständigkeiten des BVerfG ist darum gering (vgl etwa BVerfGE 109, 275, 279; 111, 286, 288). Es handelt sich um eine ruhende Kompetenz, die ua die Landesverfassungsgerichtsbarkeit aktivieren soll. Der Gesetzgeber hat die Zuständigkeiten weiter ausgestaltet (§ 13 Nr 8, 71–72 BVerfGG). Dort finden sich Regelungen über die Parteifähigkeit in den drei genannten kontradiktorischen Streitverfahren. Antragsteller und Antragsgegner können im nichtverfassungsrechtlichen Bund-Länder-Streitverfahren Bundesregierung und die Landesregierungen (§ 71 Abs. 1 Nr 1 BVerfGG), im Länderstreit die Landesregierungen (§ 71 Abs. 1 Nr 2 BVerfGG), im Landesstreit die obersten Organe des Landes oder die in der Landesverfassung oder in der Geschäftsordnung eines obersten Organs des Landes mit eigenen Rechten ausgestatteten Organteile sein (§ 71 Abs. 1 Nr 3 BVerfGG). Ein wichtiger Anwendungsfall für das nichtverfassungsrechtliche Bund-Länder-Streitverfahren sind Streitigkeiten um Rechte aus dem Einigungsvertrag (vgl BVerfGE 95, 250, 266).
§ 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze › III. Die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts im Überblick › 6. Individual- und Kommunalverfassungsbeschwerde
6. Individual- und Kommunalverfassungsbeschwerde
81
In Art. 93 Abs. 1 Nr 4a GG findet sich das „Flaggschiff“ des BVerfG, die Zuständigkeit zur Entscheidung über Verfassungsbeschwerden. Antragsberechtigt ist „jedermann“, der behaupten kann, durch die gemäß Art. 1 Abs. 3 GG grundrechtsgebundene öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte, die sich im ersten Abschnitt des Grundgesetzes finden (Art. 1–19 GG), oder in einem seiner in Art. 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104 enthaltenen Rechte verletzt zu sein. Der Gesetzgeber hat das Individualverfassungsbeschwerdeverfahren näher ausgestaltet (§§ 13 Nr 8a, 90, 92–95 BVerfGG). Er hat dabei von der Ermächtigung des Art. 94 Abs. 2 S. 2 GG Gebrauch gemacht und ein besonderes Annahmeverfahren vorgesehen (§§ 93a–93d BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde ist fristgebunden (§ 93 BVerfGG); zulässig ist sie nur dann, wenn nicht von vornherein auszuschließen ist, dass der Beschwerdeführer in einem seiner Grundrechte oder der sonst rügefähigen Rechte verletzt ist (§ 90 Abs. 1 BVerfGG). Grundsätzlich muss der Beschwerdeführer, bevor er das BVerfG anruft, vor den Fachgerichten ordnungsgemäß, aber erfolglos um Grundrechtsschutz nachgesucht haben (§ 90 Abs. 2 BVerfGG).
82
Eine erfolgreiche Verfassungsbeschwerde endet mit einem Feststellungstenor (§ 95 Abs. 1 BVerfGG); Entscheidungen von Gerichten und Behörden, die den Beschwerdeführer in seinen Rechten verletzen, werden aufgehoben (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). Da zur öffentlichen Gewalt auch der Gesetzgeber zählt und eine behördliche oder gerichtliche Entscheidung auch deshalb Grundrechte verletzen kann, weil sie auf einem grundrechtswidrigen Gesetz beruht, besteht auch im Verfassungsbeschwerdeverfahren die Möglichkeit, ein Gesetz für nichtig zu erklären (§ 95 Abs. 3 BVerfGG).
83
Die Zuständigkeit zur Entscheidung über Rechtssatzverfassungsbeschwerden von Gemeinden und Gemeindeverbänden wegen der Verletzung ihres Selbstverwaltungsrechts (Art. 28 Abs. 2 GG) durch ein Bundes- oder Landesgesetz ist dem BVerfG in Art. 93 Abs. 1 Nr 4b GG zugewiesen. Für Kommunalverfassungsbeschwerden gegen Landesgesetze ist das BVerfG nur zuständig, soweit nicht Beschwerde zum Landesverfassungsgericht erhoben werden kann. Regelungen über das Verfahren finden sich in den §§ 13 Nr 8a, 90 Abs. 2, 91–95 BVerfGG.
§ 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze › III. Die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts im Überblick › 7. Nichtanerkennungsbeschwerde
7. Nichtanerkennungsbeschwerde
84