Verfassungsprozessrecht. Christian Hillgruber
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Wenn die hier angestellten Überlegungen zutreffend sein sollten, dann befänden sich all diejenigen, die den Staatsorganen zur Behebung der gegenwärtigen Vertrauenskrise Transparenz und Bürgernähe empfehlen, auf dem Holzwege. Würtenbergers Annahme (R. Zippelius/T. Würtenberger, Staatsrecht § 48 Rn 2), die Verbreiterung der Entscheidungsbasis durch Einbeziehung externer Sachverständiger und von Interessenverbänden in die verfassungsgerichtlichen Verfahren und die effektive Öffentlichkeitsarbeit des Gerichts erhöhten die Überzeugungskraft und Legitimation der Judikatur des BVerfG, dürfte kaum zutreffen. Die breite Öffentlichkeit nimmt von all dem kaum Notiz, und gegenüber den professionellen ‚Einflüsterern‘ bleibt sie – anders als die politische Klasse – mit Recht argwöhnisch. Im Übrigen besteht insoweit auch kein erheblicher Unterschied zu den weit weniger gelittenen Verfassungsorganen Regierung und Parlament, die sich derselben Instrumente bedienen, ohne dass dies ihr Ansehen gemehrt hätte.
§ 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze
Inhaltsverzeichnis
I. Das Bundesverfassungsgericht als Teil der rechtsprechenden Gewalt
II. Zuständigkeits- und Verfahrensregelungen
III. Die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts im Überblick
§ 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze › I. Das Bundesverfassungsgericht als Teil der rechtsprechenden Gewalt
I. Das Bundesverfassungsgericht als Teil der rechtsprechenden Gewalt
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Die Rechtsprechung, dh die Befugnis zur letztverbindlichen Entscheidung von Streitigkeiten allein am Maßstab des Rechts durch einen am Streitverhältnis nicht beteiligten Dritten (vgl BVerfGE 103, 111, 137 f)[1], ist im Staat des Grundgesetzes den Richtern anvertraut (Art. 92 GG). Ein Teil davon wird vom BVerfG ausgeübt. Ihm kommt die Kompetenz zur Kontrolle von Exekutive, Legislative und Judikative am Maßstab des Grundgesetzes zu. Seine Entscheidungen binden auch die am jeweiligen Verfahren nicht beteiligten Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden (§ 31 Abs. 1 BVerfGG). In bestimmten Fällen haben sie Gesetzeskraft (§ 31 Abs. 2 BVerfGG) und genießen damit Allgemeinverbindlichkeit[2].
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Seinem Status als Gericht entsprechend ist das BVerfG heute (vgl noch BVerfGE 1, 76 ff; 2, 79 ff; 3, 407 ff) nicht mehr dafür zuständig, Rechtsgutachten über verfassungsrechtliche Fragen zu erstatten. Die entsprechende Kompetenz[3], die das BVerfG als „grundsätzlich der richterlichen Funktion wesensfremd“ erkannte (BVerfGE 2, 79, 86), wurde schon 1956 wieder gestrichen[4].
§ 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze › II. Zuständigkeits- und Verfahrensregelungen
II. Zuständigkeits- und Verfahrensregelungen
§ 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze › II. Zuständigkeits- und Verfahrensregelungen › 1. Grundsätze
1. Grundsätze
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Die Zuständigkeiten des BVerfG ergeben sich aus Art. 93 GG. Die Vorschrift enthält keine dem § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO vergleichbare (bundes-)verfassungsgerichtliche Generalklausel (BVerfGE 1, 396, 408; 3, 368, 376), sondern regelt die Zuständigkeiten des BVerfG enumerativ. Bestimmte Zuständigkeiten sind dem Gericht in Art. 93 Abs. 1 Nr 1 bis Nr 4c GG und Art. 93 Abs. 2 GG ausdrücklich zugewiesen. Gem. Art. 93 Abs. 1 Nr 5 GG entscheidet das BVerfG außerdem „in den übrigen in diesem Grundgesetze vorgesehenen Fällen“, so zum Beispiel über die Frage der Verfassungswidrigkeit politischer Parteien (Art. 21 Abs. 2 S. 2 GG) oder die Verfassungsmäßigkeit entscheidungserheblicher Normen auf Vorlage eines Gerichts (Art. 100 Abs. 1 GG). In Art. 93 Abs. 3 GG schließlich wird der Bundesgesetzgeber ermächtigt, dem BVerfG weitere Zuständigkeiten zuzuweisen, was ua in § 36 Abs. 2 S. 1 PUAG geschehen ist. Diese Regelung ist abschließend (BVerfGE 1, 396, 408 f; 13, 174, 176 f; 63, 73, 76). Es ist Sache des Gesetzgebers, nicht des Gerichts, die Zuständigkeiten des BVerfG zu erweitern, wenn sich dies als erforderlich erweisen sollte.
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Art. 93 GG erfüllt eine dreifache Funktion: Er benennt die dem BVerfG zugeordneten Verfahrensarten, begründet für diese die Zuständigkeit des Gerichts und eröffnet damit jeweils auch den verfassungsgerichtlichen Rechtsweg[5]. Es ist daher nicht sinnvoll, die Prüfung der Zulässigkeit eines Antrags mit der Frage der Eröffnetheit des „Rechtswegs zum BVerfG“ zu beginnen, wie es das BVerfG 2015 und 2016 wieder getan hat (BVerfGE 140, 115, 138; 143, 101, 122; ausf. zu dieser Frage Rn 487 u. Rn 551).
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Wo dem BVerfG weder durch das GG noch durch verfassungsgemäßes Bundesgesetz die Entscheidungszuständigkeit zugewiesen ist, darf es nicht tätig werden: „Nicht jeder im objektiven Verfassungsrecht begründeten Pflicht muss also ein vor dem BVerfG verfolgbarer Anspruch eines anderen Beteiligten gegenüberstehen“ (BVerfGE 13, 54, 96). Das BVerfG darf nur in der Sache entscheiden, wenn es zuständig ist und die Voraussetzungen für eine Entscheidung in der Sache – die Zulässigkeitsvoraussetzungen – vorliegen (so bereits BVerfGE 1, 184, 196). Sie ergeben sich teils aus dem GG selbst, teils aus dem BVerfGG.
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Wo das GG dem BVerfG – ob in Art. 93 GG selbst oder an anderer Stelle – Zuständigkeiten ausdrücklich zuweist, finden sich zT auch mehr oder weniger detaillierte Regelungen über die Grundstrukturen des jeweiligen Verfahrens, zB über den Kreis der Beteiligten, den Angriffsgegenstand, den Prüfungsmaßstab oder die Antragsbefugnis. Dem Bundesgesetzgeber, der gemäß Art. 94 Abs. 2 S. 1 GG das Verfahren des Gerichts regelt und dies im BVerfGG getan hat, bleibt die verfassungsgemäße Konkretisierung dieser Vorgaben. Er darf dem Gericht weder Zuständigkeiten entziehen, die ihm nach dem GG zukommen sollen, noch den Zugang zum Gericht ohne rechtfertigenden Grund erschweren oder gar unmöglich machen.
§ 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze › II. Zuständigkeits- und Verfahrensregelungen › 2. Bindung des BVerfG an verfassungswidrige Verfahrensregelungen?
2. Bindung des BVerfG an verfassungswidrige Verfahrensregelungen?
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Tut der Gesetzgeber dies gleichwohl, befindet sich das BVerfG in einer misslichen Lage: Durch eine verfassungswidrige Verfahrensregelung im BVerfGG, etwa: durch den verfassungswidrigen Ausschluss bestimmter Beteiligter von einem bestimmten Verfahren (vgl Rn 421 ff zu § 63 BVerfGG) oder unverhältnismäßig strenge Zulässigkeitsvoraussetzungen,