Verfassungsprozessrecht. Christian Hillgruber
staatlicher Organe zu messen hat. Handlungs- und Kontrollnormen weisen daher keine inhaltlichen Unterschiede aus. Es gibt keinen Unterschied zwischen der Reichweite der Bindung der zur Anwendung des Verfassungsrechts primär berufenen Verfassungsorgane einerseits und dem Umfang der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung andererseits. Das GG enthält dafür jedenfalls keinen Anhaltspunkt[50]. Vielmehr weist es dem BVerfG in den ihm zur Entscheidung zugewiesenen Verfahren uneingeschränkt die Aufgabe zu, die Verletzung verfassungsrechtlich geschützter Rechtspositionen oder die Vereinbarkeit staatlicher Maßnahmen mit der gesamten Verfassung zu überprüfen. Die verfassungsgerichtliche Prüfung ist deshalb so intensiv wie die materielle verfassungsrechtliche Bindung. Die einzelnen, mit Bindungswirkung ausgestatteten Verfassungsbestimmungen unterscheiden sich aber in ihrer normativen Regelungsdichte. Für jede Norm der Verfassung ist gesondert zu ermitteln, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang sie Beurteilungs- und Handlungsspielräume der zuständigen staatlichen Organe schafft und anerkennt, die verfassungsgerichtlicher Nachprüfung nur auf Einhaltung des verbindlich gesetzten Rahmens unterliegen. Die innerhalb dieses Rahmens zu treffenden Entscheidungen sind – verfassungsrechtlich nicht determiniert – politischer Natur und entziehen sich damit der nur am Maßstab des Grundgesetzes orientierten Rechtsprüfung durch das BVerfG.
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Nicht unproblematisch ist auch die These von der gebotenen Selbstbeschränkung des Gerichts (judicial self-restraint)[51], die das BVerfG selbst aufgegriffen hat (BVerfGE 36, 1, 14). Die „Beschränkung“, der das BVerfG unterliegt, ist die auf eine gerichtsförmige Rechtskontrolle[52] am Maßstab der Verfassung, dh eine Beschränkung auf die ihm zugewiesenen Entscheidungskompetenzen[53]. Der Begriff der Selbstbeschränkung suggeriert dagegen, dass das BVerfG großzügigerweise auf die Ausübung einer Kompetenz verzichtet, die ihm eigentlich zustünde. Das aber wäre unzulässig. Anders formuliert: „Selbstbeschränkung setzt Selbstermächtigung voraus […] Nichtentscheidung trotz gegebener Entscheidungszuständigkeit ist für ein Gericht Kompetenzüberschreitung“[54]. Andererseits kann angesichts der verfassungsrechtlich vorgegebenen Kompetenzordnung in der Tat nur das mit der Letztentscheidungsbefugnis und dem Recht zur verbindlichen Auslegung des Grundgesetzes ausgestattete BVerfG selbst, also der „unkontrollierte Kontrolleur“ verhindern, dass der Gesetzgeber seine Eigenständigkeit einbüßt, und zwar durch sachgerechte, das gewaltenteilige System des Grundgesetzes im Auge behaltende Auslegung. Das BVerfG darf nicht der Versuchung erliegen, die verfassungsrechtlichen Anforderungen, denen auch die demokratische Mehrheit ihren politischen Willen unterordnen muss, zu überdehnen und ein „gouvernement des juges“ zu errichten. Je mehr Sachentscheidungen nämlich durch autoritative Verfassungsinterpretation seitens des BVerfG als verfassungsrechtlich determiniert gelten, umso weniger Entfaltungsraum verbleibt für den demokratisch legitimierten politischen Prozess. Hier geht es indes letztlich um „amtsethische Erwartungen an das BVerfG“, um einen Appell an das staatspolitische Verantwortungsbewusstsein des BVerfG, nicht dagegen um eine verfahrensrechtlich bestimmbare, „einklagbare“ Funktionsgrenze (zu den Schwierigkeiten der Bestimmung des genauen „Grenzverlaufs“ siehe auch Sondervotum Lübbe-Wolff, BVerfGE 134, 366, 419, 421).
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Der Vorrang gesetzgeberischer Gestaltungsfreiheit außerhalb des Kernbereichs des durch die Verfassung unabstimmbar Vorgegebenen beruht auf der Erwägung, dass in einem demokratischen Gemeinwesen vor allem der durch das Volk unmittelbar legitimierte parlamentarische Gesetzgeber dazu berufen ist, im öffentlichen Willensbildungsprozess unter Abwägung der verschiedenen, widerstreitenden Interessen nach dem Mehrheitsprinzip über die von der Verfassung offen gelassenen Fragen zu entscheiden (BVerfGE 33, 125, 159; 35, 79, 148, 152 f – abweichende Meinung; 85, 386, 403 f). Dies ist die Logik der parlamentarischen Demokratie, die der parlamentarischen Mehrheit auf Zeit Handlungsvollmacht und politische Verantwortung zuweist. Soll ihr nicht die Verantwortung abgenommen werden, darf ihr auch nicht die Handlungsvollmacht entzogen werden, auch nicht durch das BVerfG. In diesem Sinne muss denn doch vom BVerfG eine gewisse Selbstbeschränkung eingefordert werden; „judicial activism“ ist jedenfalls genau genommen nichts anderes als „political activism“ und als solcher unzulässige Kompetenzüberschreitung durch das BVerfG.
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Die Gefahr, dass das BVerfG im Gewande der Verfassungsauslegung in Wahrheit Politik betreibt, ist jedenfalls größer als die umgekehrte, oft beschworene Gefahr einer Selbstentmachtung des Parlaments durch Juridifizierung und Justizialisierung der Politik. Zwar wird häufig der Vorwurf erhoben, die Politik stelle sich nicht ihrer Verantwortung und schiebe notwendige Entscheidungen, zu denen sie sich selbst nicht durchringen kann, dem BVerfG zu. Aber das immer wieder beklagte „Abschieben“ ungelöster politischer Fragen an das BVerfG nach Karlsruhe ist so gar nicht möglich. Dem BVerfG können zulässigerweise nur Verfassungsstreitigkeiten unterbreitet werden. Das BVerfG kann und darf in den vorgesehenen Verfahrensarten von den danach Antragsberechtigten mit dem Ziel angerufen werden, eine – je nach Verfahrensart – mehr oder weniger umfassende Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Ausübung von Staatsgewalt durch das BVerfG durchführen zu lassen. Beschränkt sich das zulässigerweise angerufene Verfassungsgericht sodann auf eine solche Rechtmäßigkeitskontrolle am Maßstab der Verfassung, so erfüllt es genau die ihm zugewiesene Aufgabe als „Hüter der Verfassung“. Problematisch wird es erst dann, wenn das BVerfG den ihm vorgegebenen, exklusiven Prüfungsmaßstab der Verfassung durch extensive Auslegung anreichert, so dass der Handlungsspielraum der Politik wegen des Primats der Verfassung und der Bindung aller Staatsgewalt an die Entscheidungen des BVerfG über Gebühr eingeschränkt wird, wenn also unter dem Deckmantel der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Sache nach Politik betrieben wird. Dies darf das BVerfG nämlich gerade nicht tun. Es kann und muss sich darauf beschränken, nach Maßgabe des Verfassungsrechts zu entscheiden. Dagegen darf es eine ihm tatsächlich oder auch nur vermeintlich angesonnene politische Lösung weder vorschlagen noch gar verbindlich machen. Der ihm zugespielte „schwarze Peter“ ist nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes vom BVerfG an die politisch zuständigen Instanzen zurückzuschieben. Entscheidend ist also auch hier das Verhalten des BVerfG selbst: Hält es sich strikt an den ihm vorgegebenen, alleinigen Prüfungsmaßstab oder erliegt es der Versuchung, Rechtspolitik zu betreiben und als Verfassungsauslegung zu deklarieren.
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Im Übrigen ist es verfassungsrechtlich legal und legitim, wenn eine parlamentarische Minderheit, die im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren unterlegen ist, den Versuch unternimmt, die in Berlin erlittene politische Niederlage in einen juristischen Sieg in Karlsruhe umzumünzen. Ob ihr das gelingt, hängt von der Überzeugungskraft ihrer verfassungsrechtlichen Argumentation ab, über die das BVerfG zu befinden hat. In den politischen Streit, der hier vor den Schranken des Verfassungsgerichts „mit anderen Mitteln“ fortgesetzt wird, hat es sich dabei in keiner Weise einzumischen.
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Kann der verfassungsändernde Gesetzgeber die Mehrheitserfordernisse für eine Gesetzesnormen verwerfende Entscheidung des BVerfG abweichend von der geltenden Grundregel des § 15 Abs. 4 S. 2 BVerfGG erhöhen und damit das Gesetzesrecht in seiner Bestandskraft verstärken? Dazu dürfte ihn Art. 94 Abs. 2 S. 1 GG ohne weiteres ermächtigen. Könnte er einzelne Verfahrensarten, die de constitutione lata dem BVerfG zur Entscheidung zugewiesen sind, etwa die abstrakte Normenkontrolle streichen – zweifelsohne – oder gar – horribile dictu – die Institution des Verfassungsgerichts selbst abschaffen? Die Verfassungsbindung aller Staatsgewalt(en) gemäß Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG bedeutet jedenfalls nicht denknotwendig Unterworfenheit unter eine Verfassungsgerichtsbarkeit, und auch wenn man die erst durch gerichtliche Kontrolle hergestellte Effektivität des Vorrangs der Verfassung als nach Art. 79 Abs. 3 iVm. Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG dauerhaft garantiert ansieht[55], erfordert dies nicht unbedingt die Existenz einer organisatorisch verselbständigten Verfassungsgerichtsbarkeit. Wenn nach Abschaffung des Verfahrens der konkreten Normenkontrolle gemäß Art. 100 Abs. 1 GG entweder dezentral alle Fachgerichte oder – vorzugswürdig