Klausurenkurs im Öffentlichen Wirtschaftsrecht. Stefan Storr
der Problematik lagen diese Voraussetzungen aber im vorliegenden Fall aus den dargelegten Gründen gerade nicht vor. Damit hätte das BVerwG den Fall gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV dem EuGH vorlegen müssen.
3. Willkürmaßstab
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Ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG setzt aber nach der Rechtsprechung des BVerfG weiter voraus, dass die Vorlage willkürlich unterblieb[62]. Hierfür stellt das Gericht nicht auf die – verfahrensrechtliche – Frage, inwieweit die Prozessbeteiligten im Verfahren zur Frage der Vorlageverpflichtung substantiiert vorgetragen haben[63], sondern auf materielle Aspekte ab. Nach ständiger Rechtsprechung liegt Willkür dann vor, wenn „die Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsregel des Art. 267 Abs. 3 AEUV bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist“[64]. Damit sind freilich die an die Konkretisierung dieser „Willkür-Formel“ anzulegenden Maßstäbe noch nicht geklärt. Zwar hat das BVerfG[65] ausdrücklich anerkannt, dass „für die konkrete inhaltliche Bestimmung dessen, was im Einzelfall Willkür ist, auch das Gemeinschaftsrecht und die völkervertragliche Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland […] zu beachten sind“. Es betonte allerdings vor allem die verfassungsgerichtlichen Selbstbeschränkung. Die Frage nach dem gesetzlichen Richter bleibe eine solche des nationalen Rechts, die außerdem in allen Fällen der Vorlageverpflichtung nach gleichen Maßstäben geprüft werden und die Funktion des BVerfG beachten müsse. Genauso wenig wie eine Superrevisionsinstanz ist das BVerfG ein nationales oberstes „Vorlagen-Kontroll-Gericht“. Vor diesem Hintergrund unterscheidet es drei Konstellationen[66]: Eine „grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht“ liegt erstens vor, wenn das Gericht die Vorlagepflicht grundsätzlich verkennt, eine Vorlage also überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es die Frage für entscheidungserheblich hält und selbst Zweifel an der richtigen Beantwortung der Vorlagefrage hat[67]. Die zweite Fallgruppe liegt vor, wenn die Entscheidung „bewusst von der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht“[68]. Beide Varianten sind hier nicht einschlägig. Es liegt vielmehr zur entscheidungserheblichen Frage der Übertragbarkeit der Keck-Rechtsprechung noch keine EuGH-Entscheidung vor. Hat das Gericht „die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur als entfernte Möglichkeit (Unvollständigkeit der Rechtsprechung)“[69], sei Willkür nur dann anzunehmen, „wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschreitet“[70].
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Dies sei dann nicht der Fall, wenn das entsprechende Gericht nach Auslegung und Anwendung des materiellen Unionsrecht entweder zu dem vertretbaren Ergebnis gelangt, dass „die Rechtslage entweder von vorneherein eindeutig („acte claire“) oder durch Rechtsprechung in einer Weise geklärt ist, die keinen vernünftigen Zweifel offenlässt („acte éclaire“)“[71]. Das Gericht muss für diese Beurteilung die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs auswerten und sich mit den entsprechenden Vorschriften des materiellen Unionsrecht vertraut machen[72] und für sein Ergebnis eine einleuchtende Begründung liefern[73]. In der Sache hat es damit die anzulegenden Maßstäbe gegenüber der früheren Willkürkontrolle erheblich verschärft[74]. Die Schwierigkeiten, die die Keck-Formel EuGH und Generalanwalt bereiten, hätten nach der traditionellen Willkürformel dazu geführt, dass man die Entscheidung als jedenfalls nicht unhaltbar ansehen und damit die Verletzung der Vorlagepflicht hätte verneinen können. Nach den neuen Maßstäben hätte sich das Gericht intensiv(er) mit der Frage auseinandersetzen und angesichts der Unklarheiten um die Keck-Rechtsprechung[75] dem EuGH die Gelegenheit zur Rechtsfortbildung geben müssen. Daher liegt im Ergebnis auch ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG vor.
Hinweis:
Selbstverständlich ist an dieser Stelle mit der entsprechenden Begründung auch das gegenteilige Ergebnis begründbar. Entscheidender als die Kenntnis der aktuellen Rechtsprechung ist Problembewusstsein.
Anmerkungen
Die Grundfreiheiten können daher nicht unmittelbar mit der Verfassungsbeschwerde verteidigt werden, BVerfGE 110, 141, 154 f; Hillgruber, Verfassungsprozessrecht, Rn 126a mwN.
BVerfGE 111, 307, 317.
Vgl BVerfGE 111, 307, 329 f.
Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Art. 93 Rn 80; Kingreen/Poscher, Grundrechte Rn 1255, 1265; Sachs, Verfassungsprozessrecht, 2004, Rn 447. Die Frage partiell fehlender Grundrechtsfähigkeit (hinsichtlich der Deutschengrundrechte) wird nach dieser Auffassung frühestens für die Frage der Verfassungsbeschwerdebefugnis relevant. Insoweit aA Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 2. Aufl 2001, Rn 426; Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, Rn 104 ff, die (auch) auf die konkret erhobene Verfassungsbeschwerde abstellen. Diese Auffassung wird vor allem damit begründet, dass sich ja jedermann auf die Prozessgrundrechte berufen könne und deswegen beteiligtenfähig sei, verwischt jedoch die Grenzen zur Verfassungsbeschwerdebefugnis. Selbstverständlich sind in der Klausur beide Auffassungen vertretbar.
StRspr, vgl BVerGE 12, 6, 8; 18, 441, 447; 64, 1, 11.
Inländisch ist also nach der hier vertretenen Auffassung ungeachtet der (möglicherweise „ausländischen“) Rechtsform eine juristische Person, die ihren Sitz, dh ihr faktisches Verwaltungszentrum, im Inland hat. Teile des Schrifttums hatten bisher weitergehend verlangt, dass die (inländische) juristische Person auch nicht von Ausländern beherrscht wird, vgl Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 19 Rn 22 mwN.
Zu dieser „Anwendungserweiterung des deutschen Grundrechtsschutzes“ ausf BVerfGE 129, 78, = NJW 2011, 3428, 3430 ff.
Vgl näher zum Beschwerdegegenstand Pieroth/Schlink, Grundrechte Rn 1233; aA Hillgruber/Goos, Rn 92. Dass die Aufspaltung in unterschiedliche „Streitgegenstände“ (für die dann auch in der Tat jeweils getrennt die Zulässigkeit der VB zu prüfen wäre, vgl Hillgruber/Goos, Rn 92a) nicht weiterführt, belegen die Ausführungen des BVerfG zu solchen Fällen, in denen sich die Verfassungsbeschwerde ausdrücklich auf die letztinstanzliche Entscheidung beschränkt. Hier entnimmt das BVerfG ggf der Begründung, dass sie sich auch gegen den im Verfahren aufrecht erhaltenen Ausgangsbescheid und die Entscheidungen der Vorinstanzen richtet, vgl BVerfGE 6, 386, 387; 54, 53, 64 ff. Würde es sich um einen nicht vom Antrag erfassten Streitgegenstand handeln, wäre dies prozessrechtlich unzulässig. Die tlw abweichende Argumentation in BVerfGE 19, 377, 389 ist nur mit der damaligen besonderen Lage in Berlin (Besatzungsvorbehalt) zu erklären. Beschränkt sich die materielle Prüfung gar wie hier bei der Urteilsverfassungsbeschwerde auf die Verfassungsmäßigkeit der zugrunde gelegten Norm (s. Rn 43), kann dies erst recht nicht als anderer Streitgegenstand gedeutet werden. Klausurtaktisch ist es nicht empfehlenswert diese Frage zu vertiefen.
BVerfGE