Klausurenkurs im Öffentlichen Wirtschaftsrecht. Stefan Storr
des Gemeinschaftsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt; ob ein solcher Fall gegeben ist, ist unter Berücksichtigung der Eigenheiten des Unionsrechts, der besonderen Schwierigkeiten seiner Auslegung und der Gefahr voneinander abweichender Gerichtsentscheidungen innerhalb der Union zu beurteilen“[46].
a) Entscheidungserheblichkeit
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Entscheidungserheblich ist eine Frage dann, wenn es auf diese im Ergebnis ankommt. Dies wäre unproblematisch gegeben, wenn man die Verfassungsmäßigkeit des § 7 NRSG bejaht. Eine verfassungswidrige Vorschrift ist demgegenüber nichtig und braucht somit auch nicht dem EuGH vorgelegt zu werden. Da aber das BVerwG offensichtlich von der Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift ausgegangen ist, kam es aus seiner Sicht auf die Vereinbarkeit mit Europarecht an. Verstieße die Norm nämlich gegen die Grundfreiheiten, wäre sie wegen des Vorrangs des Unionsrechts nicht anzuwenden.
b) Auslegung des Unionsrechts: Vereinbarkeit mit der Niederlassungsfreiheit, Art. 49 AEUV
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Eine Vorlagepflicht bestünde allerdings nicht, wenn die Auslegung des Unionsrechts offenkundig wäre.
aa) Anwendungsbereich
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Der persönliche und sachliche Anwendungsbereich der Niederlassungsfreiheit müsste eröffnet sein. Die Niederlassungsfreiheit schützt die selbstständige wirtschaftliche Erwerbstätigkeit in einem anderen Mitgliedsstaat auf unbestimmte Dauer[47]. S ist als englische Limited eine juristische Person des Privatrechts aus einem EU-Mitgliedsstaat, die eine Niederlassung in Deutschland eröffnen und sich damit dauerhaft in das Wirtschaftsleben in Deutschland integrieren möchte. Insoweit bestehen gegen die Anwendbarkeit der Niederlassungsfreiheit keine Bedenken.
bb) Eingriff
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Die Niederlassungsfreiheit verbietet zunächst die Diskriminierung gegenüber den Staatsangehörigen des Bestimmungsstaates. § 7 NRSG gilt aber unterschiedslos für Aus- und Inländer. Eine versteckte Diskriminierung ist anzunehmen, wenn durch eine an sich unterschiedslose Vorschrift faktisch Ausländer stärker betroffen werden, weil die Voraussetzungen der Norm sie stärker belasten[48]. Das Rauchverbot des § 7 NRSG erfasst alle Gewerbetreibenden im Gaststättengewerbe und verlangt EU-Ausländern wie S, die im Inland eine Gaststätte eröffnen, nicht mehr ab, als einem Inländer[49]. Eine Diskriminierung scheidet somit aus. Nach der Dassonville-Formel sind darüber hinaus jedoch alle Maßnahmen gleicher Wirkung verboten. Darunter fallen alle Handelsregelungen eines Mitgliedstaates, die geeignet sind, den zwischenstaatlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern[50]. Indem das Gaststättengewerbe einem Rauchverbot unterliegt und S seine Tätigkeit als Gaststättenbetreiber nicht einfach beliebig gestalten kann, stellt § 7 NRSG folglich eine wirtschaftshemmende Regelung dar, die die durch den AEUV verbürgte Niederlassungsfreiheit einschränkt.
Allerdings hat das BVerwG unter Hinweis auf die Keck-Rechtsprechung bereits einen Eingriff in den Schutzbereich verneint. Mit dieser Rechtsprechung hat sich der EuGH, zunächst bei der Warenverkehrsfreiheit, angesichts seines weiten Eingriffsbegriffes um eine Begrenzung des Schutzbereiches bemüht. Danach fallen „bestimmte Verkaufsmodalitäten“ dann nicht in den Schutzbereich der Warenverkehrsfreiheit, wenn sie für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben und außerdem den Absatz in- und ausländischer Waren in rechtlich wie tatsächlich gleicher Weise berühren[51]. Obschon dies der EuGH nur für die Dienstleistungsfreiheit ausdrücklich entschieden hat[52], dürfte sich der Grundsatz auch auf die anderen Grundfreiheiten anwenden lassen, soweit es sich um nichtdiskriminierende und marktverhaltensbezogene Vorschriften handelt[53]. Andererseits hat der EuGH zur Niederlassungsfreiheit lapidar entschieden, dass alle „nationalen Maßnahmen, die die Ausübung der durch den Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten behindern oder weniger attraktiv machen“, einer Rechtfertigungspflicht unterliegen[54]. Etwa bei Regelungen über Öffnungszeiten, die unter die Keck-Rechtsprechung fielen, hat er eine Beschränkung mit dem Argument abgelehnt, dass die jeweils geltend gemachten Behinderungen zu ungewiss und rein hypothetischer Natur seien. Dogmatisch sind diese Ausführungen allerdings nicht ausgereift: „Dieser Ansatz weist aber einen letztlich rein tatsächlichen Charakter auf, ist dogmatisch kaum konturiert und trägt damit insbesondere nichts zur Frage bei, ob und inwieweit die Grundfreiheiten tatsächlich darauf begrenzt sind, spezifische Behinderungen des grenzüberschreitenden Wirtschaftens in Frage zu stellen“[55]. Schwieriger zu bewerten ist die Frage, was bei der Niederlassungsfreiheit als Äquivalent zu den „Verkaufsmodalitäten“ anzusehen ist. Zu diesen gehören anerkanntermaßen Verkaufsbeschränkungen, etwa die Apothekenpflichtigkeit bestimmter Arzneimittel[56]. Mit einem solchen könnte man das Rauchverbot vergleichen. Wie ein Verkaufsverbot, das für sämtliche Waren (aus dem In- und Ausland) gilt, betrifft es alle Dienstleistungsanbieter gleichermaßen, erschwert also nicht den Zugang gerade von Ausländern. Andererseits könnte man dies gerade bei der Konzeptgastronomie auch anders sehen, wird es doch dem S durch die Vorschrift unmöglich gemacht, sich mit seinem (im Ausland erfolgreichen) konkreten Konzept auf dem deutschen Markt zu etablieren, so dass sich das Rauchverbot jedenfalls wie eine produktbezogene Vorschrift auswirkt. Dies spricht eher gegen eine Anwendung der Keck-Grundsätze.
cc) Rechtfertigung
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Selbst wenn aber die Grundsätze der Keck-Rechtsprechung zu Unrecht herangezogen worden wären, könnte sich die Entscheidung im Ergebnis dann als richtig erweisen, wenn die Maßnahme jedenfalls gerechtfertigt ist. Eine Rechtfertigung kommt bei Maßnahmen gleicher Wirkung durch geschriebene (Art. 51, 52 AEUV) und ungeschriebene Rechtfertigungsgründe in Betracht. Da erstere offensichtlich ausscheiden, könnte sich eine Rechtfertigung nur aus zwingenden Gründen des Allgemeinwohls ergeben[57]. In Betracht kommt hier der Schutz des Rechtsgutes Gesundheit, insb auch bei Minderjährigen. Mit dem Nichtraucherschutzgesetz wollte der rheinland-pfälzische Gesetzgeber die Bevölkerung vor den Gefahren des Rauchens schützen und auch den Tabakkonsum bei Minderjährigen eindämmen[58]. Auch der EuGH misst sowohl dem Schutz der Volksgesundheit wie auch dem Minderjährigenschutz einen besonders hohen Rang bei. Angesichts dessen und vor dem Hintergrund der wissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse über die Gesundheitsschädlichkeit des Passivrauchens ist der dadurch erfolgende Eingriff in die Niederlassungsfreiheit insoweit grundsätzlich gerechtfertigt.
Allerdings wäre möglicherweise aus den gleichen Gründen wie bei der Frage der Vereinbarkeit der Regelung mit Art. 12 GG (vgl oben) ein Schutzkonzept, das keine Ausnahmen für eine ausgewiesene Rauchergastronomie vorsieht, als europarechtswidrig anzusehen. Das gilt umso mehr, als der EuGH in verschiedenen Zusammenhängen sogar noch stärker als das BVerfG den Gedanken der System- und Folgerichtigkeit eines gesetzgeberischen Konzepts betont. Deshalb erschiene es durchaus denkbar, dass der EuGH für diesen Fall eine Ausnahmeregelung einfordern könnte. Dies gilt umso mehr, als der EuGH in den Entscheidungen zum Glücksspielrecht die Stimmigkeit des Gesamtkonzepts über die Grenzen der konkreten Normen und sogar der Gesetzgeber hinaus beurteilt hat[59]. Wollte man dies auf die vorliegende Konstellation übertragen, stünde vermutlich der gesamte Nichtraucherschutz auf dem Prüfstand. Die Inkohärenz würde dann nach Ansicht des EuGH bereits die Eignung der einzelnen Regelung in Frage stellen[60]. Diese Fragen bedürfen jedoch keiner abschließenden Entscheidung, da im vorliegenden Verfahren nur die Frage einer Vorlageverpflichtung zu prüfen ist. Nach der EuGH-Rechtsprechung darf ein innerstaatliches Gericht nur dann davon ausgehen, dass ein Fall vorliegt, in dem die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass kein Raum für einen vernünftigen Zweifel an der Entscheidung der gestellten Frage bleibt und deshalb die grundsätzliche Vorlagepflicht ausnahmsweise entfällt, wenn es überzeugt ist, „dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den Gerichtshof die gleiche Gewissheit bestünde. Nur dann darf