Allgemeines Verwaltungsrecht. Mike Wienbracke
II. Öffentlich-rechtlicher Vertrag
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Neben dem Verwaltungsakt (Rn. 39 ff.) als der für die Verwaltung typischen und häufigsten Handlungsform hält das VwVfG in seinen §§ 54 bis 62 mit dem öffentlich-rechtlichen Vertrag eine weitere und immer bedeutsamer werdende Möglichkeit für die Behörde bereit, wie diese ein Rechtsverhältnis auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts begründen, ändern oder aufheben kann, vgl. auch §§ 53 bis 61 SGB X.[187] Während sich das Instrument des Verwaltungsakts dadurch auszeichnet, dass die Behörde mit seiner Hilfe einseitig eine Regelung gegenüber dem Bürger trifft („hoheitliche Maßnahme“; Rn. 46), besteht das Wesensmerkmal des öffentlich-rechtlichen Vertrags gerade darin, dass Bürger und Behörde einvernehmlich (konsensual) handeln (Befriedungsfunktion). Zur Anwendung gelangt der öffentlich-rechtliche Vertrag denn auch vornehmlich dort, wo die Verwaltung in besonderem Maße auf Kooperation mit dem Einzelnen angewiesen ist, wie etwa im Bereich des Städtebaurechts zur Herstellung eines tatsächlichen Interessenausgleichs oder als rudimentärer Rahmen der Public Private Partnerships (PPP), mittels derer Private in die Erledigung öffentlicher Aufgaben mit einbezogen werden. Neben diesen Vorteilen birgt der öffentlich-rechtliche Vertrag freilich auch Gefahren. Stichworte sind insoweit der „Ausverkauf von Hoheitsrechten“ bzw. umgekehrt die „Monetarisierung von Verwaltungsleistungen“ (Rn. 111).
JURIQ-Klausurtipp
Wie bereits in der Verortung der für den öffentlich-rechtlichen Vertrag geltenden Vorschriften zum Teil im VwVfG (§§ 54 bis 62 S. 1) und zum Teil im BGB (siehe § 62 S. 2 VwVfG) zum Ausdruck kommt, bewegen sich auch Fallbearbeitungen in diesem Bereich auf der Grenze zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht. Seiner Grundstruktur nach unterscheidet sich der öffentlich-rechtliche Vertrag denn auch nicht vom privatrechtlichen Vertrag. In beiden Fällen kann ein vertraglicher Anspruch, d.h. das Recht der einen Vertragspartei, von der anderen ein Tun oder Unterlassen verlangen zu können (vgl. § 194 Abs. 1 BGB), nur dann erfolgreich geltend gemacht werden, wenn der Anspruch entstanden, nicht erloschen und durchsetzbar ist. Insoweit ist daher auch in der öffentlich-rechtlichen Klausur zivilrechtlich zu „denken“, d.h. der aus dem Zivilrecht bekannte Aufbau zu wählen:
1. | Anspruch entstanden? → Ist der öffentlich-rechtlich (Rn. 97) zu qualifizierende Vertrag (Rn. 95) wirksam zustande gekommen, d.h. ist die Schriftform des § 57 VwVfG (Rn. 106 und Rn. 117) gewahrt, die etwaig erforderliche Zustimmung Dritter bzw. die Mitwirkung anderer Behörden nach § 58 VwVfG erfolgt (Rn. 104 f.) und liegt auch i.Ü. keine Nichtigkeit i.S.v. § 59 VwVfG (Rn. 115 ff.) vor? |
2. | Anspruch erloschen? → Erlöschenstatbestände enthalten u.a. § 60 VwVfG (Rn. 114) und § 62 S. 2 VwVfG i.V.m. §§ 275, 323 ff., 362 BGB. |
3. | Anspruch durchsetzbar? → Einredetatbestände sind v.a. in § 62 S. 2 VwVfG i.V.m. §§ 214, 242, 273 und 320 BGB enthalten. |
Inhaltlich – und insoweit ist die Klausur wieder originär öffentlich-rechtlich – sind die öffentlich-rechtlichen Normen (des VwVfG, vgl. dessen § 62 S. 1, sowie v.a. die Grundrechte) und die allgemeinen Rechtsgrundsätze zu beachten, an welche die Behörde auch bei Wahl der vertraglichen Handlungsform gebunden ist (Rn. 107 f.).
Im Fall der Nichterfüllung der vertraglichen Verpflichtung muss die jeweils andere Vertragspartei Klage vor dem Verwaltungsgericht erheben, um ihren Anspruch zwangsweise durchzusetzen. Dies gilt auch für die Behörde, die sich durch den Vertragsschluss mit dem Bürger auf die Ebene der Gleichordnung begibt und ihre Ansprüche aus öffentlich-rechtlichem Vertrag daher nicht einseitig mittels Verwaltungsakt fest- und durchsetzen darf (Argument der „Waffengleichheit“; Rn. 127). Zur Möglichkeit der Unterwerfung unter die sofortige Vollstreckung siehe § 61 VwVfG.
1. Vertrag
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Ebenso wie im Zivilrecht ist auch im öffentlichen Recht unter dem Begriff „Vertrag“ die Einigung von zwei oder mehr Rechtssubjekten über die Herbeiführung eines bestimmten Rechtserfolgs zu verstehen.[188]
Erforderlich hierfür sind mindestens zwei mit Bezug aufeinander abgegebene, sich inhaltlich entsprechende und mit Rechtsbindungswillen (andernfalls: unverbindliche informelle Absprache wie z.B. gentlemen's agreement), Handlungswillen sowie (potentiellem) Erklärungsbewusstsein abgegebene Willenserklärungen in Form von Angebot und Annahme, die zu ihrem Wirksamwerden dem jeweils anderen zugehen müssen, siehe § 62 S. 2 VwVfG i.V.m. §§ 130, 145 ff. BGB. Da die Behörde nicht rechtsfähig, d.h. kein eigenständiges Rechtssubjekt ist, ist nicht sie selbst Vertragspartner des Privaten (natürliche oder juristische Person oder teilrechtsfähige Vereinigung), sondern vielmehr derjenige Rechtsträger, dem ihre Erklärungen zugerechnet werden (vgl. Rn. 49).
Hinweis
In diesem Zusammenhang können sich namentlich kommunalrechtliche Probleme stellen. So ist etwa gem. § 63 Abs. 1 S. 1 GO NRW unbeschadet der dem Rat und seinen Ausschüssen zustehenden Entscheidungsbefugnisse der Bürgermeister der gesetzliche Vertreter der Gemeinde in Rechts- und Verwaltungsgeschäften. Das bedeutet: Ein vom Bürgermeister im Namen der Gemeinde geschlossener öffentlich-rechtlicher Vertrag i.S.v. § 54 VwVfG NRW ist im Außenverhältnis zum Bürger grundsätzlich selbst dann wirksam, wenn der hierfür im gemeindlichen Innenverhältnis nach § 41 GO NRW erforderliche Ratsbeschluss fehlt (Abstraktionsprinzip).[189] Abweichendes gilt ausnahmsweise insbesondere dann, wenn der Bürgermeister mit dem Vertragspartner in rechtlich zu missbilligender Weise zusammenwirkt (Kollusion) oder Letzterer den Mitwirkungsmangel kannte bzw. kennen musste, d.h. nicht schutzwürdig ist. In diesen Fällen ist der Vertrag gem. § 59 Abs. 1 VwVfG NRW i.V.m. § 138 nichtig (Rn. 117).[190]
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Kein Fall des § 54 VwVfG, sondern vielmehr des § 35 S. 1 VwVfG, liegt hingegen vor, wenn der Bürger aufgrund eines gesetzlich vorgesehenen Antrags- oder Zustimmungserfordernisses lediglich Einfluss darauf hat, ob eine einseitige behördliche Regelung überhaupt ergeht oder nicht (mitwirkungsbedürftiger Verwaltungsakt, z.B. Beamtenernennung; Rn. 46). Voraussetzung für eine vertraglich herbeigeführte Regelung ist vielmehr, dass der Private Gelegenheit hat, auch auf den Inhalt des Rechtsverhältnisses Einfluss zu nehmen. Bedeutsam wird diese Unterscheidung insbesondere dann, wenn die Behörde über die Wahlmöglichkeit verfügt, anstatt einen Verwaltungsakt zu erlassen, einen öffentlich-rechtlichen (Subordinations-)Vertrag mit demjenigen zu schließen, an den sie sonst den Verwaltungsakt richten würde, vgl.