Allgemeines Verwaltungsrecht. Mike Wienbracke
Rn. 321) zugänglich ist. Ist dies der Fall und lässt sich nach entsprechender Norminterpretation ein mit dem einschlägigen (einfachen) Gesetzes-, Verfassungs- bzw. Europarecht kompatibles Ergebnis erzielen, so ist die niederrangige Norm damit sehr wohl wirksam bzw. anwendbar.[28]
Beispiel[29]
Wer die Absicht hat, eine öffentliche Versammlung unter freiem Himmel zu veranstalten, hat dies nach § 14 Abs. 1 VersammlG spätestens 48 Stunden vor der Bekanntgabe der zuständigen Behörde unter Angabe des Gegenstands der Versammlung anzumelden. Ist eine Versammlung nicht angemeldet, so kann die zuständige Behörde diese gem. § 15 Abs. 3 VersammlG auflösen.
Diese einfachgesetzlichen Ordnungsvorschriften des VersammlG sind im Lichte des höherrangigen Grundrechts der Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG) anzuwenden. Aus der demnach gebotenen verfassungskonformen Auslegung ergibt sich speziell im Hinblick auf § 15 Abs. 3 VersammlG, dass die Auflösung einer nicht angemeldeten Versammlung keine Rechtspflicht der zuständigen Behörde ist, sondern lediglich eine Ermächtigung („kann“), von welcher die Behörde angesichts der hohen Bedeutung der Versammlungsfreiheit im Allgemeinen nur dann pflichtgemäß Gebrauch machen darf, wenn weitere Voraussetzungen für ein Eingreifen hinzukommen. Die bloße Verletzung der Anmeldepflicht des § 14 Abs. 1 VersammlG darf daher regelmäßig nicht zur Auflösung der Versammlung führen.
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Handelt es sich bei der Ermächtigungsgrundlage für den jeweiligen Verwaltungsakt um eine Vorschrift in einem vom Parlament (Bundestag bzw. Landtag, nicht dagegen: Gemeinderat) erlassenen Gesetz (im formellen Sinn; Rn. 8), so ist die Ermächtigungsgrundlage dann wirksam, wenn sie verfassungsgemäß ist, d.h. in Einklang mit dem Grundgesetz – und ggf. mit der betreffenden Landesverfassung – steht. Andernfalls ist das Gesetz grundsätzlich nichtig.
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Beruht der Verwaltungsakt dagegen nicht unmittelbar auf einem Gesetz im formellen Sinn, sondern auf einer Rechtsverordnung oder einer Satzung als Gesetz im nur materiellen Sinn (Rn. 8), so ist zunächst die Rechtmäßigkeit der Rechtsverordnung bzw. Satzung zu prüfen. Die Rechtsverordnung muss der Verordnungsermächtigung entsprechen, die Satzung muss innerhalb des Bereichs der Satzungsautonomie verbleiben, welcher durch das Verfassungsrecht und die einfachen Gesetze vorgegeben wird. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, so ist in einem zweiten Schritt die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes zu prüfen, auf dem die Rechtsverordnung bzw. Satzung beruht.[30] Rechtswidrige Satzungen sind – vorbehaltlich der etwaigen Unbeachtlichkeit eines Fehlers (z.B. §§ 214 f. BauGB; § 7 Abs. 6 GO NRW) – ebenso wie rechtswidrige Rechtsverordnungen grundsätzlich ipso iure nichtig.[31]
Beispiel[32]
Heranziehung eines Hundehalters zur Hundesteuer durch Verwaltungsakt.
Der Hundesteuerbescheid ist nur dann rechtmäßig, wenn er mit der betreffenden kommunalen Hundesteuersatzung als Ermächtigungsgrundlage in Einklang steht, die ihrerseits sowohl den einschlägigen einfach-gesetzlichen als auch verfassungs- und europarechtlichen Vorgaben genügen muss.
2. Normprüfungskompetenz
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Von der materiell-rechtlichen Prüfung der Vereinbarkeit einer niederrangigeren mit einer höherrangigeren Norm (Rn. 129 ff.) zu trennen ist die verfahrensrechtliche Frage, wer befugt ist, diese Prüfung vorzunehmen (Normprüfungskompetenz).
Normprüfungskompetenz ist die Befugnis, die Gültigkeit einer Rechtsnorm am Maßstab höherrangigen Rechts zu prüfen.[33]
Insoweit besteht überwiegend Einigkeit darüber, dass die Verwaltung – ebenso wie die Gerichte[34] – aufgrund von Art. 20 Abs. 3 GG (Gesetzmäßigkeit der Verwaltung; Rn. 8 ff.) bzw. des Anwendungsvorrangs des europäischen Unionsrechts (Rn. 137) berechtigt und verpflichtet ist, sämtliche im konkreten Fall entscheidungserheblichen Vorschriften auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigerem Recht zu prüfen. Umstritten ist lediglich der Intensitätsgrad der Prüfung. Während z.T. eine vollumfängliche Normprüfungskompetenz der Verwaltung bejaht wird, gehen andere von einer nur summarischen Prüfung bzgl. offenkundiger bzw. leicht erkennbarer Mängel aus.[35]
3. Normverwerfungskompetenz
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Gelangt der im konkreten Fall mit der Gesetzesanwendung befasste Verwaltungsbeamte im Rahmen der Normprüfung (Rn. 133) zu der Auffassung, dass die betreffende nationale[36] Vorschrift mit höherrangigerem
• | deutschen Recht nicht vereinbar sei, so stellt sich die Frage, welche Konsequenzen er hieraus zu ziehen hat. Namentlich ist insofern streitig, ob die Verwaltung die von ihr für rechtswidrig erachtete Norm bei der Entscheidung des Einzelfalls außer Acht zu lassen befugt ist (Normverwerfungskompetenz).[37] Nach teilweise vertretener Auffassung sei diese Frage zu bejahen, d.h. der Beamte dürfe das betreffende Gesetz nicht anwenden. Rechtswidrige Rechtsnormen seien nichtig und daher folglich nicht anzuwenden. Nach a.A. sei vom genauen Gegenteil auszugehen: Der gesetzesgebundene Beamte müsse ein Gesetz auch dann anwenden, wenn er es für verfassungswidrig erachtet. Die in Rechtsprechung[38] und Literatur[39] h.M. spricht sich vor dem Hintergrund des hierarchischen Verwaltungsaufbaus, dem Rechtssicherheit fordernden Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) sowie der Kompetenzabgrenzung zur Judikative (gerichtliches Normverwerfungsmonopol; bzgl. nachkonstitutioneller Gesetze im formellen Sinn (Rn. 8) besteht ein Verwerfungsmonopol des Bundes- bzw. Landesverfassungsgerichts, siehe Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG) für eine „Mittellösung“ aus: Ein Beamter, der ein solches Gesetz für verfassungswidrig hält, muss das Verwaltungsverfahren aussetzen und die Frage dem jeweiligen Vorgesetzten bis zum Erreichen der Regierungsebene vorgelegt werden, sog. Remonstration (§ 63 Abs. 2 BBG, § 36 Abs. 2 BeamtStG).[40] Die (Bundes-/Landes-)Regierung kann dann eine (abstrakte) Normenkontrolle beim zuständigen Verfassungsgericht beantragen (auf Bundesebene: Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG). Bzgl. der von Art. 100 Abs. 1 GG nicht erfassten Satzungen und bestimmter Rechtsverordnungen siehe § 47 VwGO und vgl. § 76 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG. Im Übrigen verbleibt insoweit die Möglichkeit, dass die Behörde, welche die ihrer Ansicht nach rechtswidrige Vorschrift anzuwenden hätte, das Verfahren aussetzt und die Aufhebung der betreffenden Norm bei derjenigen Instanz (bzw. deren Aufsichtsbehörde) anregt, die zum Erlass – und damit auch zur Aufhebung – dieser Norm befugt ist; |
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europäischen Unionsrecht nicht vereinbar ist, d.h. nicht europarechtskonform |