Datenschutzrecht. Jürgen Kühling
und sachlichen Unabhängigkeit des Richters auch im Hinblick auf die durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebotene Abwägung der sich bei Eingriffen in das Fernmeldegeheimnis gegenüberstehenden Rechtspositionen für angemessen erachtet.[3] Ein allgemeines Erfordernis eines Richtervorbehalts in Fällen eines Eingriffs in das Fernmeldegeheimnis hat das Gericht jedoch zu Recht nicht aufgestellt. Aus dem Wortlaut des Grundgesetzes ergeben sich auch keinerlei Anhaltspunkte in diese Richtung. Nichtsdestotrotz ist mit Blick auf die erhebliche Bedeutung der durch Art. 10 Abs. 1 GG geschützten Rechtsgüter eine derartige prozedurale Flankierung im Rahmen der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes grundsätzlich erforderlich.
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In diesem Zusammenhang böte sich möglicherweise aber auch eine Differenzierung nach der Eingriffsintensität an. So wäre es durchaus möglich, einen Richtervorbehalt nur dann als verfassungsrechtlich zwingend vorgegeben anzusehen, wenn der Inhalt der Kommunikation selbst betroffen ist und es nicht lediglich um Verkehrsdaten geht. Letztlich spielt diese Frage bislang aber keine Rolle, da in den entsprechenden einfachgesetzlichen Eingriffsermächtigungen stets ein Richtervorbehalt normiert worden ist. Speziell bei Eingriffen in das Fernmeldegeheimnis zur Durchsetzung urheberrechtlicher Ansprüche wegen Rechtsverletzungen im Internet ist aber zu berücksichtigen, dass es sich beim Internet um das typische Medium der Rechtsverletzung handelt. Dementsprechend muss auch eine medienspezifische Reaktion möglich sein, so dass in diesem Fall aus verfassungsrechtlicher Sicht ein Richtervorbehalt möglicherweise nicht erforderlich ist und auch andere Kontrollverfahren – etwa unter Einschaltung der Bundesnetzagentur – denkbar sind.
Anmerkungen
So auch Gusy, ZRP 2003, 275.
BVerfG, Beschl. v. 28.9.2004, 2 BvR 2105/03 = NJW 2005, 275 (276).
BVerfG, Urt. v. 12.3.2003, 1 BvR 330/96 u. 1 BvR 348/99 = BVerfGE 107, 299 = NJW 2003, 1787 (1792).
d) Vorratsdatenspeicherung
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Von großer Relevanz im Zusammenhang mit dem Fernmeldegeheimnis war das Urteil des BVerfG zur Vorratsdatenspeicherung[1], in dem das Gericht den Beschwerdeführern im Wesentlichen Recht gab, die angegriffenen Normen (§§ 113a und 113b TKG a.F. sowie § 100g Abs. 1 S. 1 StPO, soweit danach Verkehrsdaten gemäß § 113a TKG a.F. erhoben werden durften) unter Feststellung der Verletzung von Art. 10 Abs. 1 GG für nichtig erklärte und die unverzügliche Löschung der auf dieser Grundlage gespeicherten Daten anordnete.
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Zur Frage der Prüfungskompetenz führten die Richter zunächst aus, die Wirksamkeit der damaligen Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie (siehe dazu → Rn. 164 ff.) sei nicht entscheidungserheblich, weil ein hinreichend weiter Entscheidungsspielraum der Mitgliedstaaten bestehe, um grundsätzlich eine Umsetzung ohne Verstoß gegen deutsche Grundrechte zu erreichen.[2] Eine Vorlage an den EuGH sah das BVerfG nicht als geboten an, weil der Zugang selbst in der Richtlinie nicht näher geregelt werde und eine anlasslose Speicherung an sich nicht schlechthin unvereinbar mit der Verfassung sei. Sie könne mit der Effektivierung der Strafverfolgung, der Gefahrenabwehr und der Erfüllung der Aufgaben der Nachrichtendienste legitime Zwecke verfolgen. Eine bereits im Volkszählungsurteil strikt verbotene Vorratsspeicherung zu unbestimmten oder noch nicht bestimmten Zwecken liege nicht vor. Allerdings unterliege die Speicherung hinsichtlich Begründung und Ausgestaltung besonders strengen Anforderungen. Gegen die Annahme der Geeignetheit und Erforderlichkeit bestünden keine durchgreifenden Bedenken. Speziell das „Quick-Freeze-Verfahren“ könne nicht als ebenso wirksam angesehen werden, weil es keinen vollständigen Datenbestand für die letzten sechs Monate gewährleiste. Es bleibt abzuwarten, ob das BVerfG an diesem im Vergleich zum EuGH (siehe → Rn. 177 ff.) großzügigeren Maßstab auch künftig festhalten wird.
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Hinsichtlich der Angemessenheit betonte das Gericht zunächst die Schwere des Eingriffs in das Fernmeldegeheimnis aufgrund seiner bisher ungekannten Streubreite, seiner Anlasslosigkeit und Heimlichkeit. Zudem komme den Daten eine weitreichende Aussagekraft zu, weil bei umfassender und automatisierter Auswertung bis in die Intimsphäre hineinreichende inhaltliche Rückschlüsse möglich seien und gegebenenfalls aussagekräftige Persönlichkeits- und Bewegungsprofile erstellt werden könnten. Im Übrigen hob das Gericht die Missbrauchsmöglichkeiten hervor, speziell aufgrund der Vielzahl privater Anbieter, die Zugriff auf die Daten haben müssen.
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Demgegenüber sei jedoch zu beachten, dass die Erhebung nicht direkt durch den Staat vorgenommen werde und deshalb bei der Speicherung selbst noch keine Zusammenführung erfolge. Der Abruf selbst fände dann stets anlassbezogen nach rechtlich näher festgelegten Kriterien statt. Zwar liege die sechsmonatige Speicherdauer an der Obergrenze der Rechtfertigungsfähigkeit, der Bürger könne sich jedoch nach Ablauf auf die nachhaltige Löschung verlassen. Die Vorratsdatenspeicherung knüpfe außerdem an die besondere Bedeutung der Telekommunikation in der modernen Welt an und reagiere auf ein spezifisches Gefahrenpotential durch Bündelung von Wissen, Handlungsbereitschaft und krimineller Energie.
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Ungeachtet dessen nahm das Gericht sodann auf den verfassungsrechtlichen Identitätsvorbehalt Bezug, den der Zweite Senat im „Lissabon-Urteil“[3] entwickelt hat und für dessen Wahrung sich die Bundesrepublik in europäischen und internationalen Zusammenhängen einsetzen müsse.[4] Hierzu zähle, dass die Vorratsdatenspeicherung auch im Zusammenspiel mit anderen Datensammlungen nicht zu einer totalen Erfassung und Registrierung der bürgerlichen Freiheitswahrnehmung führen dürfe. Im Ergebnis dürfen also auch nach einer „Überwachungsgesamtrechnung“ nicht praktisch alle Aktivitäten der Bürger erfassbar und rekonstruierbar sein.[5] Vor diesem Hintergrund reduziere die Vorratsdatenspeicherung zwar den Spielraum für weitere anlasslose Datensammlungen auch über den Weg der Europäischen Union. Sie führe jedoch nicht zu einer entsprechenden Totalerfassung und sei damit verfassungsrechtlich unbedenklich, sofern eine angemessene Ausgestaltung der Speicherung und Verwendung der Daten gewährleistet werde.
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Dies erfordere die Gewährleistung einer besonders hohen Datensicherheit, enge Vorgaben für die Verwendung der Daten, hinreichende Vorgaben zur Transparenz sowie effektive Rechtsschutzmöglichkeiten und Sanktionen. Im Einzelnen bedeute dies etwa grundsätzlich eine getrennte Speicherung, eine anspruchsvolle Verschlüsselung, ein gesichertes Zugriffsregime sowie eine revisionssichere Protokollierung.[6] Der Abruf zur Strafverfolgung setze einen durch bestimmte Tatsachen begründeten Verdacht einer schweren Straftat voraus, deren Schwere in der Strafnorm einen objektivierten Ausdruck finden und die auch im Einzelfall schwer wiegen muss.[7] Hinsichtlich aller Eingriffsermächtigungen mit präventiver Zielsetzung müssen tatsächliche Anhaltspunkte einer konkreten Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person, für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes bzw. eines Landes oder einer gemeinen Gefahr vorliegen.[8] Die Zweckbindung müsse dabei jeweils auch im Anschluss an Abruf oder Übermittlung sichergestellt und verfahrensmäßig