Handbuch Medizinrecht. Thomas Vollmöller
sondern auch formale Übereinstimmungen zwischen der mittelalterlichen Zunft als „Korporation“ und den späteren berufsständischen Assoziationen: das Zusammenwirken zwischen der Obrigkeit und den Berufsständen bei der Fassung von Satzungen, die teils als autonome („reine Willküren“), teils als bestätigte „Willküren“ sowie als rein obrigkeitsrechtliche und angeregte Normen entstanden, belegt den „Interaktionsprozess“ zwischen Standes- und Berufsrecht. Man kann von einem Nebeneinander, Miteinander oder durchaus auch Gegeneinander von „berufsständischen“ Ordnungen öffentlich-rechtlichen Charakters einerseits und privatrechtlicher Provenienz andererseits sprechen.[14]
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Für die wissenschaftlich ausgebildeten Ärzte schufen auch die Universitäten eine Art Standesorganisation, welche die von ihr promovierten und (bis 1725)[15] approbierten Ärzte beaufsichtigte und sich darüber hinaus auch um Wettbewerbs- und Honorarangelegenheiten kümmerte.[16] In den Statuten der medizinischen Fakultäten finden sich darüber hinaus Bestimmungen zur Schweigepflicht, zur Werbung wie auch zum Kollegialitätsgebot. Neben Zünften und Fakultäten waren es seit dem 15. Jahrhundert die vereinsmäßigen und freiwilligen Vereinigungen von Ärzten in Gestalt der collegia medica und später dann Berufsvereinigungen, die berufliche Verhaltensregeln erließen.
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Die Zunahme legal oder illegal außerhalb der klassischen „Überwachungsorganisationen“ (Taupitz) tätiger Behandler rief schließlich die Obrigkeit auf den Plan; die Folge war eine zunehmende „Verstaatlichung“ des Gesundheitswesens. Neue collegia medicorum entstanden – wie etwa im Rahmen des Medizinal-Edikts vom 12.6.1685 – zur „Remedierung angezogener Mängel und Ungelegenheiten und zur fleißigen Aufsicht und sorgfältigen Beobachtungen des Arzneiwesens und aller dazu gehörigen Leute, die Apotheker, Barbiere, Wundärzte, Hebammen, Okkultisten, Bruch- und Steinschneider, Bader und dergleichen“, diesmal jedoch in Gestalt staatlicher Überwachungsorgane, denen Examination und Approbation ebenso oblag, wie Berufsaufsicht und Streitschlichtung.[17]
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Regeln autonomer Standesvertretungen wurden im Absolutismus von der Staatsgewalt okkupiert und mit autoritativ gesetzten Medicinalordnungen ausgefüllt.[18] Auch hier ging es um Regeln der Werbung, der Zusammenarbeit, der Kollegialität, der Honorierung und des Behandlungsverhältnisses. Die akademisch gebildeten Ärzte[19] mussten sich dem obrigkeitlichen System anpassen, bei dem „die amtliche Instruktion (. . .) an die Stelle der sittlichen Pflicht des Arztes“[20] trat. Diesen staatlichen Einfluss zurück zu drängen, war eines der tragenden Motive jener Ärzte, die sich bei der Diskussion über die preußische Gewerbeordnung im Jahr 1869 für die Freigabe der Heilbehandlungen aussprachen. Mit Einführung der Gewerbefreiheit gelangte die Berufsgruppe damit unter das „allgemeine Rechtsregime“, ohne dass damit jedoch eine vollständige Aufgabe der eigenständigen Berufsordnung erfolgte.[21]
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Zunehmende Professionalisierung, eine Verwissenschaftlichung der Medizin und die darauf zurückzuführende Entstehung eines abgeschlossenen Expertenstandes führten im 19. Jahrhundert zu einer starken Gegenbewegung der Ärzteschaft hin zur berufsständischen Interessenvertretung. In der Folge „entstand damit zum ersten Mal in der Entwicklung des Berufsrechts eine bewusste und gewollte Verlagerung von Entscheidungskompetenz auf Rechtsbildungs- und Rechtsanwendungsinstanzen des Berufsstandes“.[22] Als politische Revolutionäre forderten die Ärzte einen einheitlichen Ärztestand mit Selbstverwaltungsrechten. Dennoch erfolgte formal die „Rückkehr zu einem vollständig eigenen Berufsrecht“[23] erst durch die Reichsärzteordnung 1935 und eine in der Folge erlassene Berufsordnung. Nach Ende des 2. Weltkrieges wurde das „vom Staat abgetrotzte“ Recht (Taupitz) zur Gestaltung des („sublegalen“) Berufsrechts in den Heilberufe-Kammergesetzen der Bundesländer verankert. Mit der Formulierung von Berufsausübungsregeln und dem Führen der Berufsaufsicht sorgen die Kammern mit dafür, dass die jeweiligen Berufsträger ihre Leistungen im Gemeinwohlinteresse kompetent und zuverlässig erbringen.[24] Angesichts einer stark kasuistisch ausgeprägten Rechtsprechung muss jedoch bezweifelt werden, ob dem selbst gestalteten Berufsrecht der Kammern noch jener „machtbeanspruchende“ Charakter zukommt, von dem Taupitz spricht.[25]
6. Kapitel Berufsrecht der Gesundheitsberufe unter Einschluss der Darstellung des Rechts der Selbstverwaltung › D. Berufsrecht der Heilberufe › II. Aktuelle Entwicklungen
1. Europäisches Recht
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Auch die Europäische Union formuliert Berufsrecht. Mit der Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates über die Anerkennung von Berufsqualifikationen erfolgte eine Angleichung bei der gesetzlichen Anerkennung bestimmter Berufsqualifikationen für den (leichteren) Berufszugang und dessen Ausübung in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Bislang bestehende sektorale Richtlinien wurden damit ersetzt, was auf Kritik gestoßen ist.[26] Betroffen sind Selbstständige oder abhängig Beschäftigte, einschließlich der Angehörigen der Freien Berufe, die einen reglementierten Beruf in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem sie ihre Berufsqualifikationen erworben haben, ausüben, Art. 2 Abs. 1 Berufsanerkennungs-Richtlinie. Von Bedeutung ist die Richtlinie insbesondere für jene reglementierten Berufsgruppen, die bislang nicht von einer sektoralen Richtlinie erfasst waren.[27]
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Hinweis
Reglementierte Berufe sind gekennzeichnet durch berufliche Tätigkeiten, die bei der Aufnahme oder Ausübung direkt oder indirekt durch Rechts- und Verwaltungsvorschriften an bestimmte Berufsqualifikationen gebunden sind, wobei zur Berufsausübung auch die Führung einer Berufsbezeichnung, die durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften auf Personen beschränkt ist, die über eine bestimmte Berufsqualifikation verfügen, zählt.[28]
2. Qualitätssicherung, Verbraucherschutz
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Die Entwicklung des Wettbewerbsrechts, die Diskussionen innerhalb der Europäischen Union (EU) über Gemeinschaftsmaßnahmen im Gesundheitswesen und freiberufliche Dienstleistungen[29] sowie die Formulierungen im 16. Hauptgutachten der Monopolkommission aus dem Jahr 2006 ließen bereits erwarten, dass sich die Tendenz zur (weiteren) Liberalisierung des Berufsrechts verstärken würde. Diese Prognose wurde durch die Mitteilung der EU-Kommission vom 2. Oktober 2013 zur Bewertung der nationalen Reglementierungen des Berufszugangs [KOM(2013) 676] unterstrichen. Dabei erscheint das Verhalten der Kommission in sich widersprüchlich, will sie doch auf der einen Seite Marktzugangsbarrieren abräumen, auf der anderen Seite jedoch durch eine noch stärkere Orientierung an der Qualität von Dienstleistungen im Gesundheitswesen sowie am Patientenschutz zusätzliche Regulierungsmaßnahmen vornehmen.[30] Für Aufregung hat die Initiative der EU-Kommission im Jahr 2017 hinsichtlich einer Verhältnismäßigkeitsprüfung vor Erlass neuer Berufsreglementierungen gesorgt.[31] Nach zum Teil heftigen Reaktionen der Verbände billigt Brüssel den Heilberufen einen Sonderstatus zu. Die Kommission hat offenbar erkannt, dass diese ein hohes Gesundheitsschutzniveau sicherstellen und unterstreicht daher die Notwendigkeit, die Qualität heilberuflicher Leistungen in beruflicher Unabhängigkeit zu sichern.
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Die Diskussion über die Einbeziehung der Gesundheitsberufe in die Binnenmarktstrategie der EU hat gezeigt, dass die