Hinweisgebersysteme. Martin Walter
1. Kapitel Einführung › IV. Missbrauch von Hinweisgebersystemen – Eine empirische Untersuchung › 1. Einleitung
1. Einleitung
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Mit der Verabschiedung der Richtlinie zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden[1] („EU-Hinweisgeberrichtlinie“) ist die Einführung von Hinweisgebersystemen auf europäischer Ebene neu geregelt worden. In diesem Zusammenhang ist erneut und auch zu Recht auf die mannigfachen Vorteile derartiger Systeme hingewiesen worden.
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Diskutiert man das Thema in der betrieblichen Praxis, so stößt man dennoch häufig auf eine Reaktion, die sich umschreiben lässt mit „der Verstand sagt ja, der Bauch sagt nein“. Dieses Bauchgefühl resultiert aus einem einzigen Sachverhalt: das System, so die Befürchtung, kann missbraucht werden. Hinweise könnten wissentlich falsch abgegeben und Personen zu Unrecht beschuldigt werden. Und in der Tat kommt es leider vor, dass, aus welchen Gründen auch immer, bewusst falsche Meldungen abgegeben werden (was übrigens selbst einen schwerwiegenden Compliance-Verstoß darstellt). Aber die grundlegende Frage bleibt, ob es sich hierbei um beklagenswerte Einzelfälle handelt oder ob der Missbrauch von Hinweisgebersystemen nicht doch in einem größeren Umfang stattfindet. Diese Fragestellung gewinnt zusätzliche Relevanz, sobald die Möglichkeit einer anonymen Meldung oder einer Meldung durch externe Dritte besteht.
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Umso erstaunlicher ist es, dass es hierzu bisher kaum belastbare neutrale Untersuchungen gibt. Allein die Anbieter von Internet-basierten Meldesystemen haben bei ihren jeweiligen Kunden Ergebnisse erhoben,[2] jedoch mit unterschiedlichem Rahmen und unterschiedlichem Untersuchungsdesign. Doch nur durch gesicherte empirische Erkenntnisse kann das vorhandene Misstrauen gegenüber Hinweisgebersystemen beseitigt werden. Daher wurde im Rahmen einer Masterarbeit an der TU Dresden diese Fragestellung aufgegriffen. Die durchgeführte Umfrage wurde von 43 Unternehmen beantwortet, deren Größenverteilung nach Anzahl der Mitarbeiter aus Abb. 1 unter Rn. 34 ersichtlich ist. Aus den Antworten lassen sich Kernthesen ableiten, die im nächsten Abschnitt vorgestellt und begründet werden. Es folgt ein weiterer Abschnitt mit den Untersuchungsergebnissen im Detail.
Anmerkungen
Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates v. 23.10.2019 zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden, ABlEU Nr. L 305/17 v. 26.11.2019.
Siehe etwa BKMS Benchmarking Report (nur Untersuchungsteilnehmern zugänglich) und Hauser/Hergovits/Blumer EQS HTW Chur Whistleblowingreport 2019.
1. Kapitel Einführung › IV. Missbrauch von Hinweisgebersystemen – Eine empirische Untersuchung › 2. Die Kernthesen
2. Die Kernthesen
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Die wichtigsten Auswertungsergebnisse der Antworten der 43 Unternehmen lassen sich in drei Kernthesen (KT1 bis KT3) zusammenfassen.
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Dabei beziehen sich alle nachfolgend aufgeführten Prozentsätze ausschließlich auf Compliance-relevante Hinweise, bei denen also aufgrund des eingegangenen Hinweises im Case-Management ein Fall eröffnet worden ist. Mit anderen Worten: die Grundgesamtheit der hier betrachteten Hinweise ist um fehlgeleitete Hinweise (z.B. Kundenbeschwerden) und fehlerhafte Hinweise (z.B. vollkommen unspezifisch oder offensichtlich unsinnig) bereinigt.
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Diese Compliance-relevanten Hinweise werden dann kategorisiert in
– | kein Missbrauch, |
– | eventuell Missbrauch und |
– | definitiv Missbrauch. |
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In die Kategorie „eventuell Missbrauch“ fallen Hinweise, bei denen am Ende der Untersuchung zur Aufklärung des Sachverhalts ein Missbrauch nicht nachgewiesen, aber auch nicht ausgeschlossen werden kann.
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Das Untersuchungsdesign erlaubt die Auswertung getrennt nach anonymen und nicht-anonymen Hinweisen, nach Unternehmensgröße, nach Branche des Unternehmens und nach der Möglichkeit, ob auch Unternehmensexterne Hinweise abgeben können.
a) KT1: Fast 90 % aller Hinweise werden in guter Absicht abgegeben
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Bei 84 % der Hinweise liegt nach Aussage der teilnehmenden Unternehmen mit Sicherheit kein Missbrauch vor. Hinzu kommt der nicht exakt zu bestimmende Anteil der rund 6 % der Hinweise, die eventuell Missbrauch darstellen.
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Umgekehrt lässt sich somit feststellen, dass mindestens 10 % der Hinweise in missbräuchlicher Absicht abgegeben werden.
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Während die fast 90 % in guter Absicht gegebenen Hinweise eindrucksvoll die Berechtigung und Bedeutung von Hinweisgebersystemen unterstreichen, verdeutlichen die verbleibenden (mindestens) 10 % die Notwendigkeit eines professionellen Case-Managements. Wenn jeder zehnte Hinweis bewusst falsch abgegeben wird und wenn darüber hinaus Hinweise zwar in guter Absicht abgegeben werden, aber trotzdem faktisch falsch sein können, dann müssen die in den Hinweisen ggf. beschuldigten Personen bis zum Beweis des Gegenteils zwingend als unschuldig gelten und müssen durch größtmögliche Vertraulichkeit in der Phase der Ermittlungen besonders geschützt werden. Falls beschuldigte, aber unschuldige Personen im Zuge von Aktivitäten zur Aufklärung abgegebener Hinweise Schaden nehmen, entsteht ein fast irreparabler Schaden für das Instrument des Hinweisgebersystems.
b) KT2: Der Prozentsatz missbräuchlicher Meldungen ist unabhängig davon, ob der Hinweis anonym abgegeben worden ist oder nicht
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Sowohl bei anonymer als auch bei nicht-anonymer Hinweisabgabe liegt der Prozentsatz nicht missbräuchlich abgegebener Hinweise bei 84 %. Bei anonymen (nicht anonymen) Hinweisen liegt in 9 % (11 %) der Fälle definitiv Missbrauch vor, in 7 % (5 %) der Fälle eventuell (vgl. Abb. 2 und 3 unter Rn. 35 f.).
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Das oft vorhandene intuitive Gefühl, dass bei anonymen Hinweisen häufiger Missbrauch vorliegt, hat die Studie nicht bestätigt.[1] Ein oftmals vorgetragenes Argument gegen die anonyme Hinweisabgabe ist somit nicht stichhaltig. Eine offene Hinweisabgabe als bevorzugte Alternative ist unbestritten, aber die Vorteile der Anonymität als „Ultima Ratio“ (niedrigere Hemmschwelle, höhere Anzahl an Meldungen) überwiegen deutlich die Nachteile