Der Fall Maria Okeke. Eva Ashinze
nicht.»
«Freunde? Bekannte?», hakte ich nach.
«Ja, natürlich hatte sie Freunde. Viele Freunde. Sie war sehr beliebt, weisst du.»
«Engere Freunde? Eine beste Freundin?»
«Ja, ja, die hatte sie auch. Sie waren oft zu viert unterwegs, Jungen und Mädchen bunt gemischt.» Er schüttelte belustigt den Kopf. «Nur Freunde. Wir sind nur Freunde, sagte Maria immer.»
«Hatte sie auch einen festen Freund?»
«Nein. Keinen festen Freund. Früher, da gab es einen. Sie haben sich vor über einem Jahr getrennt. Ein netter Junge war das. Und seither …» Henry schüttelte den Kopf. Ein wunderschönes Mädchen und kein Freund weit und breit. Das war eigenartig. Ich machte mir im Kopf eine Notiz.
«Und weshalb glaubst du nicht, dass Maria sich umgebracht hat?» Ich war müde und wollte endlich zum Kern der Sache kommen. Die weiteren Details über Maria konnte Henry mir, sollte es notwendig werden, auch später erzählen.
«Weshalb sollte sie?» Henry setzte sich gerade hin. «Weshalb sollte Maria sich umbringen? Sie war glücklich. Ich habe es dir ja gerade gesagt, sie hatte ein Ziel, Pläne, sie hatte Freunde. Sie war nicht unglücklich, nicht traurig, nicht deprimiert, nichts.»
«Vielleicht hat sie es dir nur nicht erzählt? Vielleicht wollte sie dir keinen Kummer machen?»
«Quatsch.» Henry fuhr wütend auf. «So war Maria nicht. Sie hat mir alles erzählt. Wir waren so.» Er presste zwei Finger zusammen. «Maria hatte keine Geheimnisse vor mir.»
Tja, das ist auch so etwas, was Eltern für gewöhnlich glauben. Sie vertrauen ihren Kindern blindlings. Aber alle Kinder haben Geheimnisse. Besonders die Achtzehnjährigen.
«Und weshalb sagt der Staatsanwalt, Maria habe sich prostituiert?»
Henry sprang auf und tigerte wütend auf und ab. «Das stimmt nicht! Maria hätte nie und nimmer als Prostituierte gearbeitet. Nie! Sie war nicht so. Ausserdem – wann hätte sie das machen sollen? Und weshalb? Wir haben Geld. Genug Geld. Und sie war immer den ganzen Tag in der Schule, und danach hat sie gelernt oder Freunde getroffen. Sie hatte keine Zeit und auch keinen Grund, so etwas zu machen.» Er schüttelte heftig den Kopf. «Das ist vollkommen am Haar herbeigerissen.»
«An den Haaren herbeigezogen. Tja, du magst ja Recht haben. Aber wie kommt der Staatsanwalt zu dieser Schlussfolgerung? Welcher Staatsanwalt ist überhaupt zuständig für den Fall?»
Henry zuckte mit den Achseln. «Eckert heisst er.» Eckert. Eckert Ulrich. Mit dem hatte ich mich auch schon herumgeschlagen, der war gar nicht mein Typ. Eckert liebte es, in Einvernahmen die Einschüchterungstaktik anzuwenden, er haute auf den Tisch und brüllte herum. Und bei den Anträgen zum Strafmass schöpfte er immer aus den Vollen.
«Wegen ihrer Kleidung hat der Staatsanwalt gesagt», fuhr Henry fort. »Sie hatte wohl nicht viel an. Ich weiss es nicht genau. Und da war irgendein Zettel, den sie gefunden hatten. Ich habe das nicht richtig verstanden. Ich war zu aufgewühlt, weisst du!» Er sah mich an.
Ich nickte beschwichtigend. «Ist nicht so wichtig. Das kann ich beim Staatsanwalt in Erfahrung bringen. Aber setz dich wieder, bitte. Ich kann mich besser mit dir unterhalten, wenn du sitzt.»
«Entschuldige. Das ist alles sehr schwer.»
Ich schwieg einen Moment. «Du glaubst also nicht, dass Maria sich umgebracht hat. Unfall?», schlug ich vor.
«Was für ein Unfall?», Er sah mich ungläubig an. «Wie kann man zu Fuss auf einer Brücke verunfallen und über das Geländer stürzen?»
«Vielleicht war Alkohol im Spiel? Eine Mutprobe?»
«Maria trinkt nicht», antwortete Henry im Brustton der Überzeugung. «Und Mutproben – für so etwas ist sie zu intelligent.»
Natürlich. Wie hatte ich nur auf den Gedanken kommen können. Trinken, Rauchen, Drogen, waghalsige dummgefährliche Mutproben, das machen immer nur die Kinder der anderen Eltern. Wobei mir die Unfalltheorie doch auch ziemlich abwegig schien. Vor allem angesichts der Tatsache, dass der Staatsanwalt diese Möglichkeit in keinster Weise in Betracht gezogen hatte.
«Also kein Selbstmord und kein Unfall. Und deswegen nimmst du an, es war Mord.»
«Was soll es denn sonst gewesen sein?»
Was sollte es sonst gewesen sein? Ich sagte nichts. Ich sagte nicht, dass die Welt nach dem Tod eines geliebten Menschen immer düster aussieht. Ich sagte nicht, dass man sich Erklärungen zurechtlegt, die sich aber fast immer als irrig erweisen. Maria hatte sich von der Brücke gestürzt. Dagegen gab es bislang keine stichhaltigen Einwände. Dafür, dass sie das getan hatte, sprach jedoch sehr viel. Die Sachlage schien eindeutig. Und wer wusste, was für dunkle Seiten hinter Marias hübscher Fassade verborgen waren?
«Nur noch eine letzte Frage, Henry», sagte ich stattdessen. «Was passierte von dem Moment an, als du Maria das letzte Mal gesehen hast, bis zur Nachricht ihres Suizids? Angeblichen Suizids», ergänzte ich schnell.
Henry erzählte mir, er habe Maria den ganzen Tag nicht gesehen. Nur morgens, beim Frühstück. Dann ging Maria zur Schule, und Henry legte sich schlafen. Am Nachmittag kam eine SMS von Maria, in der sie ihm mitteilte, sie komme erst spät nach Hause. Sie wolle mit einer Freundin lernen und bleibe da auch zum Essen. «Sie hat sich immer abgemeldet, weisst du», sagte Henry mit einem traurigen Lächeln. «Sie war sehr pflichtbewusst, auch wenn sie eigentlich erwachsen war. Aber nie hat sie mich im Ungewissen gelassen, wo sie ist oder wann sie nach Hause kommt.» Henry ging zur Arbeit. Als er frühmorgens zurück in die Wohnung kam, war Maria nicht da. Das Bett unberührt. «Ich habe mir Sorgen gemacht. Grosse Sorgen. Ich habe die Freundin angerufen, Helene. Die hat mir gesagt, Maria sei um 22 Uhr nach Hause gegangen. Ich hatte Panik. Ich hatte solche Angst um Maria. Meine Frau habe ich bereits verloren. Ich betete, lieber Gott, lass bitte nicht zu, dass Maria etwas zustösst. Lieber Gott, bring Maria heil zurück zu mir. Aber Gott hat mich nicht erhört.» Henry schwieg einen Moment. «Ich ging zur Polizei. Man belächelte mich. ‹Eine Neunzehnjährige ist seit zehn Stunden verschwunden, was Sie nicht sagen.› Als sie dann mit der Nachricht zu mir kamen, eine dunkelhäutige junge Frau sei tot aufgefunden worden, da lächelten sie nicht mehr.» Henry lachte grimmig. «Ich identifizierte ihre Tasche. Und ihre Halskette, eine kleine goldene Sonne. Trotzdem haben sie noch diesen Gentest durchgeführt, um ganz sicherzugehen. Aber ich wusste es. Ich wusste, dass es Maria war, die überfahren worden war. Trotzdem habe ich gehofft und gehofft, bis ich dann das Testergebnis erhielt.» Er schlug die Hände vor das Gesicht. Ich fragte noch nach ein, zwei Details, dann hatte ich das Gefühl, es reiche für heute. Henry war sehr aufgewühlt.
«Übernimmst du den Fall, ja?» Er sah mich flehend an.
Ich zögerte. «Ich werde sehen, was ich tun kann. Auf jeden Fall nehme ich Kontakt mit Eckert auf und sehe mir alle Unterlagen an. Die ganzen Untersuchungsberichte und so. In Ordnung? Aber versprechen kann ich nichts.» Ich wollte nichts versprechen. Ich hatte den Fall für mich bereits abgeschlossen.
«Wer füllt die Lücke aus, die eine verstorbene Person hinterlässt? Wer wird ihre Luft atmen? Essen, was sie gegessen hätte, heiraten, wen sie geheiratet hätte? Wer wird den Beruf ausüben, der dieser Person vorbestimmt war?» Henry sprach die Worte vor sich hin. Dann sah er mir direkt in die Augen. «Du verstehst mich», sagte er leise in Pidgin English. «Du bist eine von uns.» Ich wich seinem Blick aus.
Kurze darauf verabschiedete ich mich. Mein Taxi wartete bereits vor der Tür des «Alibaba». Ein teurer Spass, der heutige Abend. In mehr als einer Hinsicht.
«Ich melde mich. Und übrigens: Mach dir keine Sorgen wegen meines Honorars.» Ich warf einen giftigen Blick in Asims Richtung. «Das übernimmt Asim.»
4
Zurück in meiner Wohnung mochte ich nicht einmal mehr meine letzte rituelle Zigarette vor dem Schlafengehen rauchen. Ich sank auf meine Matratze und war sofort weg.
In dieser Nacht träumte ich von meinem Vater. Er sass