Der Fall Maria Okeke. Eva Ashinze

Der Fall Maria Okeke - Eva Ashinze


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an. Nach einigem Hin und Her wurde ich mit Béjart verbunden.

      «Detektiv Guido Béjart?», fragte ich.

      «Ja, und wer sind Sie?», fragte er einigermassen misstrauisch zurück. Er hatte eine sexy raue Stimme. Er klang wie Tom Waits auf «Closing Time».

      «Moira van der Meer», sagte ich. «Ich bin Anwältin. Sie haben eine schöne Stimme», fügte ich hinzu. Weshalb nicht mal ein Kompliment machen?

      Es folgte ein Moment der Stille. «Danke», meinte Guido Béjart, der Detektiv Wachtmeister. «Was wollen Sie?» Es klang, als könne er mich nicht leiden.

      «Ich stelle Nachforschungen im Fall Maria Okeke an. Der Vater, Henry Okeke, hat mich beauftragt», sagte ich. «Sie waren vor Ort.»

      «War ich das?», fragte er.

      «Ja. In der Nacht vom 2. auf den 3. März. Sie haben den Rapport geschrieben», half ich ihm auf die Sprünge.

      «Ich weiss. Das war eine rhetorische Frage. Glauben Sie wirklich, ich hätte diese Nacht vergessen.» Er atmete hörbar ein. «Und? Was wollen Sie?»

      Irgendwie gestaltete sich dieses Gespräch harziger als vorgesehen. Trotz der sexy Stimme. «Ich möchte mit Ihnen über diese Nacht sprechen», sagte ich.

      «Weshalb? Es steht alles im Rapport. Und den haben Sie ja.»

      «Es geht nicht um den Rapport. Es geht …» Ich suchte nach Worten. «Es geht mir um Ihre Eindrücke. Darum, wie es sich angefühlt hat.»

      «Wie es sich angefühlt hat? Wie meinen Sie das?»

      Ich hörte förmlich, wie er seine Stirn runzelte. «Ich möchte von Ihnen wissen, wie es sich angefühlt hat. Die Situation in dieser Nacht. Das tote Mädchen. Die Umgebung. Was haben Sie gedacht? Was hat es in Ihnen ausgelöst?» Ich war überzeugt, dass er mir gleich den Hörer auflegen würde. Dass er mir sagen würde, ich sei ja verrückt und solle ihn nicht mit solchem Quark belästigen. Aber nichts dergleichen geschah.

      «Wir sollten uns treffen», sagte Béjart.

      Ich schwieg verdutzt. Das hatte ich nun gar nicht erwartet.

      «Sind Sie noch dran?»

      Ich nickte mit dem Kopf und schob ein «Hmhm» nach, als mir aufging, dass er mich ja nicht sehen konnte.

      «Also? Wann und wo?»

      Ich hatte nichts gegen ein Treffen mit dem Mann mit der sexy Stimme einzuwenden. Aber ich hätte doch gerne sofort eine Antwort auf meine Frage erhalten. Geduld war keine meiner Stärken. Er liess sich nicht umstimmen.

      «Über gewisse Dinge spricht man nicht am Telefon. Ausserdem muss ich gleich weg.»

      Na dann. Man muss manchmal ein Einsehen haben, wenn das angestrebte Ziel nicht sofort zu erreichen ist. Wir verabredeten uns für den folgenden Abend. Früher ging es nicht. Heute war er ausgebucht, morgen stand ich den ganzen Tag vor Gericht. Nachdem ich aufgelegt hatte, schob ich missmutig einen Stapel Akten auf meinem Schreibtisch hin und her. Ich war unendlich neugierig auf diesen geheimnisvollen Polizisten. Ich war unendlich neugierig, was er mir mitzuteilen hatte. Ich schaute auf die Uhr. Erst vier Uhr. Irgendwie musste ich diesen Tag noch rumbringen. Ich griff erneut zum Hörer.

       10

      Eine Stunde später sass ich in einem Wartezimmer an der Wartstrasse, nicht weit vom Hotel Wartmann, und wartete wahnsinnig lange auf Herrn Wagner. Kein Witz. Aber was für eine Alliteration. James Wagner ist mein Therapeut. Mein Psychotherapeut. Spätestens seit «In Treatment» ist es ja durchaus angesagt, sich in Behandlung zu begeben. Der Gang zum Psychologen gehört zum Lifestyle. Eigentlich wurde dieser Trend bereits früher eingeleitet, als Tony sich in «The Sopranos» von der scharfen Jennifer Melfi therapieren liess. Legendär ist Tonys Schlussanalyse: «Ich hab irgendwann erkannt, dass unsere Mütter – dass sie Busfahrer sind. Sie sind – nein, sie sind der Bus. Sie sind das Fahrzeug, das uns hierherbringt. Sie lassen uns raus und fahren weiter. Sie setzen ihre eigene Reise fort. Und das Problem ist, dass wir dauernd versuchen, wieder in den Bus zu kommen, anstatt ihn einfach fahren zu lassen.» Immer sind die Mütter schuld. Ich bin zum Glück keine Mutter. Ich hab auch nicht vor, jemals Mutter zu werden. Wenn meine Mutter mir eines beigebracht hatte, dann das.

      Und nur damit es gesagt ist: Ich hatte die Psychotherapie bereits für mich entdeckt, als ihre in Anspruchnahme noch mit Schamgefühl verbunden war. Als Psychotherapie noch gleichgesetzt wurde mit versagt haben. Eine Schraube locker haben. Nicht ganz durchgebacken sein. Zwei Jahre nach Marias Verschwinden suchte ich zum ersten Mal einen Psychologen auf. Meine sämtlichen Sitzungen würden locker eine komplette Staffel «In Treatment» ergeben, die allerdings wohl niemand sehen möchte. Seit einiger Zeit vereinbare ich nur noch sporadisch Therapiesitzungen. Ich denke, ich bin so sehr therapiert, wie ich nur therapiert werden kann. Zu mehr bin ich nicht fähig. James Wagner, mein Therapeut, sieht dies natürlich anders. Uns verbindet mittlerweile mehr ein freundschaftliches Verhältnis als eine Therapeut-Patient-Beziehung. Das hindert James aber nicht daran, mir saftige Rechnungen zu schicken.

      An manchen Tagen verspüre ich das spontane Bedürfnis nach einer Unterhaltung mit James. Das Bedürfnis, ihm das Neuste aus meinem Leben zu erzählen und eine Reaktion darauf zu erhalten, eine Rückmeldung, ob ich gut unterwegs bin oder nicht. Irgendwie fehlt mir ein sechster Sinn, um das selber beurteilen zu können. Ich bin wie eine Fledermaus ohne Radar und laufe stets Gefahr, gegen ein Hindernis zu fliegen. Heute war so ein Tag. James hatte mir auf meinen Anruf hin einen Termin nach Feierabend angeboten, was mir recht war.

      Und nun sass ich also hier und wartete darauf, meine Seele durchchecken zu lassen. Das Wartezimmer meines Therapeuten sieht aus, wie viele Wartezimmer von Therapeuten aussehen. Alles ist teuer, aber unauffällig: von den durchaus bequemen, aber nicht zu bequemen Designerstühlen über den geschliffenen Holzboden, den in dezenten Farben gehaltenen Kelim und die farblich stimmigen, dezenten Gemälde an der Wand. Alles vermittelt ein unaufdringliches «Fühl dich wohl hier». Die Strategie geht auf. Ich fühle mich wohl hier.

      Ich hatte auch schon versucht, meine Wohnung ähnlich zu gestalten, auch sie zu einer Wohlfühloase zu machen mit Teppichen, warmen Farbtönen und dem einen oder anderen dekorativen Gegenstand. Doch es war mir nicht gelungen. Die Sachen passten nicht zu meiner Wohnung, nicht zu mir. Ich hatte mich gefühlt wie früher, als Jugendliche, wenn ich den Stil eines gerade angesagten Promis imitierte. Ich kleidete mich wie sie, schminkte mich gleich, machte die Sprache und die Mimik nach, immer im Bewusstsein, eine Nachahmerin zu sein. Immer im Bewusstsein, dass ich nicht ich selbst war, sondern eine Rolle spielte. So war es mir nach der Neuausstattung meiner Wohnung ergangen: Ich fühlte mich in meiner stimmigen dezenten Wohnung nicht wohl. Also brachte ich den ganzen Krempel kurzerhand zur Heilsarmee. Ich wurde behandelt wie die Reinkarnation der Jungfrau Maria. Meine Wohnung erhielt ihr altes, etwas schäbiges, karges Selbst zurück, und seither ist es dabei geblieben. Ich schlafe auf einem Futon, habe nur das Notwendigste an Möbeln, und die Wände sind grösstenteils kahl und weiss. Es gefällt mir so. Ich bin so. Kahl und karg. Innerlich.

      Endlich kam James in Begleitung eines Patienten aus seinem Sprechzimmer. «Hi», sagte er zu mir, nachdem er den Patienten verabschiedet hatte. James ist vor drei Jahrzenten der Liebe wegen aus den USA hierhergezogen. Die Liebe ist schon lange weitergezogen, aber er ist geblieben. Er geht jetzt auf Mitte fünfzig zu. James gehört zu den Männern, die Frauen lieben und die sich immer neu verlieben wollen. So ist es nicht weiter erstaunlich – wenn für einen Therapeuten vielleicht auch nicht gerade üblich –, dass er bereits zweimal geschieden ist.

      «Hallo», sagte ich und erhob mich. James begleitete mich in sein Sprechzimmer. Ich setzte mich in den Therapiestuhl.

      «Wie geht’s?», fragte ich. «Immer noch am Alimente Zahlen?» Das war eine Art Dauerscherz zwischen uns. In einer schwachen Minute des Selbstmitleids hatte James sich über die horrenden Summen beklagt, die er seinen Kindern aus erster Ehe bezahlen musste. Er war der festen Überzeugung, weniger Chancen bei Frauen zu haben, da er deswegen ein armer Schlucker war. Ich hatte nicht versucht, ihn vom Gegenteil zu überzeugen.

      «Ja, aber nicht mehr lange.» James


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