Der Fall Maria Okeke. Eva Ashinze

Der Fall Maria Okeke - Eva Ashinze


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sagte er.

      «Nein. Heute. Heute von Mitternacht bis kurz vor drei Uhr. Was erwartest du also?», fragte ich verärgert. Mein Telefonat mit dem Staatsanwalt verschwieg ich ihm wohlweislich. Goldene Anwaltsregel Nummer 1: Man sollte keinem Mandanten – oder einem Freund eines Mandanten – verraten, wie sehr man sich hinter die Sache klemmt. Ein bisschen Engagement ist in Ordnung. Zu viel, und du wirst alle zwei, drei Tage angerufen, und es wird nach Ergebnissen gefragt. Das musste man von vornherein unterbinden.

      «Nun sei nicht gleich sauer», beschwichtigte mich Asim. «Ich rufe ja gar nicht deswegen an.»

      «Ach nein? Weshalb dann?»

      «Heute Nachmittag ist Marias Beerdigung. Henry möchte, dass du kommst.»

      «Die Beerdigung ist erst heute?», wunderte ich mich.

      «Maria ist vor wenigen Tagen freigegeben worden», sagte Asim.

      «Natürlich, wie konnte ich das vergessen. Die Obduktion und der Gentest hatten Zeit in Anspruch genommen.»

      «Kommst du also?» Es war mehr eine Aufforderung als eine Frage.

      «Ich kann nicht. Ich muss arbeiten», versuchte ich mich herauszureden.

      «Moira, ich bitte dich. Das dauert eine, vielleicht zwei Stunden. Es würde Henry viel bedeuten. Und mir auch.» Goldene Anwaltsregel Nummer 2: Nimm nie Aufträge von guten Freunden an. Oder von guten Freunden von guten Freunden. Du wirst emotional unter Druck gesetzt, und am Schluss kannst du nicht einmal dein volles Honorar verrechnen. Es wird unausgesprochen immer ein Freundschaftsrabatt verlangt. Es gibt auch noch die Goldene Anwaltsregel Nummer 3: Vermische nie Berufliches und Privates. Triff dich mit deinem Mandanten nur in deinem Büro, im Büro des Staatsanwaltes, im Gerichtssaal oder im Gefängnis. Triff dich nie mit deinem Mandanten in privaten Räumen oder an privaten Anlässen. So kommst du deinem Mandanten zu nahe. Und das macht dich angreifbar. Verletzlich. Leider verstosse ich regelmässig gegen eine oder mehrere der drei Regeln.

      «Na gut», sagte ich zu Asim. «Ich komme.»

       7

      Die Beerdigung von Maria fand in der Kapelle Rosenberg statt, die beinahe zu klein war für alle Trauernden. Da waren Mitschüler, Freunde und einige ältere Frauen und Männer, von denen ich annahm, es handle sich um Marias Lehrer. Zudem viele Mitglieder der afrikanischen Gemeinde, wohl vor allem Freunde und Bekannte von Henry. Auf dem Altar stand ein grosses Foto von Maria. Eine Mitschülerin las ein Gedicht von Rilke vor. Ein Gospelchor sang zwei, drei Hymnen, und der schwarze Pfarrer sprach über Marias Leben, ihre Erfolge. Darüber, wie stolz ihr Vater auf sie gewesen war. Darüber, wie stolz die Gemeinde auf sie gewesen war. Welche Freude sie in die Welt gebracht hatte. Und darüber, wie leer diese Welt ohne Maria sei. Es war bewegend. Und traurig. Henry sass gramgebeugt da, das Gesicht vor Kummer ganz grau. Er weinte. Viele weinten.

      Für meine Schwester hatte es keine Beerdigung gegeben. Es gab keine Möglichkeit, gemeinsam Abschied zu nehmen. Es gab keine Möglichkeit, gemeinsam zu trauern. Es war 1992, als Maria verschwand. Am frühen Abend des 4. Juni 1992 fuhr Maria mit dem Fahrrad zu einer Freundin. Sie trug eine verwaschene Jeans und ein pink-schwarz gestreiftes Shirt. Um die Handgelenke trug sie zehn schmale Reifen aus Goldimitat, und in den Ohrlöchern baumelten grosse Kreolen. Das krause dunkle Haar trug Maria offen, es umrahmte ihren Kopf wie eine Löwenmähne. Für die damalige Zeit war sie in unserer Kleinstadt durchaus eine aussergewöhnliche Erscheinung. Als sie davonfuhr, winkte Maria mir zu. Die goldenen Reifen klimperten. Niemand sah Maria je wieder. Es gab keine Spur, keine ernsthaften Verdächtigen, keine Hinweise. Maria verschwand und hinterliess nichts als ein Loch in der Welt, das ihren Umriss trug. Sie war aus der Welt herausgeschnitten worden.

       8

      Zwei Tage später hatte ich die Akte Okeke in der Post. Sie war für einen Suizid erstaunlich umfangreich. Welche Abklärungen können die Behörden bei Suizid schon treffen? Es gibt im Normalfall keine Verdächtigen, die zu vernehmen sind, keine Hausdurchsuchungen oder Beschlagnahmungen, keine Abhörprotokolle oder Listen von Deliktgut. In Marias Fall waren die Ermittlungen über den Normalfall hinausgegangen, vermutlich aufgrund des unklaren Ablaufs ihres Todes. Die Akte enthielt den Polizeirapport der besagten Nacht, das Protokoll des Augenscheins, den Bericht des Bezirksarztes. Sie enthielt die Einvernahmen der betroffenen Autofahrer, den Obduktionsbericht, die Auswertungen des Gentests und der Spurensicherung. Und sie enthielt die Befragung von Henry Okeke, dem Vater der Toten, und von ihrer Freundin, die sie zuletzt lebend gesehen hatte. Ich wollte instinktiv mit letzteren beginnen. «Wollen» im Sinne von «ich hätte es bevorzugt» oder «ich hatte den Drang dazu» oder «es wäre mir sehr genehm». Aber anstatt meinem inneren Trieb nachzugeben und mir zuerst die letzten beiden Dokumente vorzunehmen, begann ich mit der ersten Seite des Polizeiprotokolls, um die Akte systematisch Seite um Seite durchzuackern. Manchmal lohnt sich Selbstbeherrschung. Es kann sein, dass man auf erstaunliche Art und Weise dafür entlohnt wird. Es kann natürlich auch sein, dass es dich nicht weiterbringt.

      Ich habe schon viele Polizeirapporte gesehen und gelesen. Der hier fiel nicht aus dem Rahmen. Der Tatort wurde in wenigen Sätzen beschrieben. Es gab eine Liste der sichergestellten Gegenstände. Die Personalien der Auskunftspersonen – der betroffenen Autofahrer – waren aufgeschrieben sowie eine Kurzzusammenfassung ihrer ersten Aussagen: In der Nacht vom 2./3. März war um 03 Uhr 15 ein Notruf bei der Polizei eingegangen. Es war eine für die Jahreszeit milde Nacht gewesen, sternenlos, da der Himmel bedeckt war. Ab und zu ging ein Schauer nieder. Die zuständigen Beamten der Nachtschicht waren ausgerückt und hatten eine menschliche Katastrophe vorgefunden. Der Autofahrer, der die Polizei gerufen hatte, Michael Meyer, sagte aus, er habe nach seiner Schicht wie immer auf der A1 nach Hause fahren wollen. Plötzlich sei er über einen grossen Gegenstand gefahren, der Wagen sei ins Schleudern geraten. An mehr konnte er sich nicht erinnern, er stand unter Schock. Wegen der Witterungsverhältnisse hatte er den menschlichen Körper nicht auf der Fahrbahn liegen sehen. Die anderen Autolenker sagten Ähnliches aus. Einige hatten Maria noch wahrgenommen, aber es war bereits zu spät, um anzuhalten oder auszuweichen. Soweit bot der Bericht keine Überraschung und nicht viel Neues. Es war eine solide Arbeit mit erstaunlich wenigen Rechtschreibefehlern. Mit Rapporten ist es aber immer so eine Sache. Ein Rapport ist ein Rapport. Ein Instrument zur objektiven Beschreibung eines Geschehens. Was fehlte, war die subjektive Meinung des Rapportierenden. Was war ihm als Erstes durch den Kopf gegangen? Was war ihm instinktiv aufgefallen? Wie hatte es sich angefühlt, als er an den Unfallort kam? Ich blätterte zurück zur ersten Seite. Der Verfasser war Detektiv Wachtmeister Guido Béjart. Ich nahm mir vor, diesen Guido Béjart bald anzurufen und ihm ein paar Fragen zu stellen. Fragen zu den Dingen, die eben gerade nicht im Rapport festgehalten worden waren. Ich hoffte, er würde mir Auskunft geben.

      Worauf ich nicht gefasst war, war die ausführliche Fotodokumentation im Anhang zum Rapport. Die Bilder trafen mich mit voller Wucht. Fotos von der Fahrbahn mit dem zerschmetterten Körper. Nahaufnahmen von dem, was einmal Maria gewesen war. Bilder der Umgebung, der Brücke, der beteiligten Fahrzeuge. Bilder der blutigen Überreste.

      Ich wollte mich dem Rest der Akte widmen, doch ich konnte nicht. Ständig hatte ich Marias verstümmelten, entstellten Körper vor Augen. Das eingedrückte Gesicht, das beinahe nicht mehr als solches zu erkennen war. Den weggerissenen Kiefer. Den Knochen, der weiss aus dem verformten Oberschenkel klaffte. Den zerquetschten Brustkorb. Das rotschwarze Blut. Die billigen, knappen Fähnchen, die zerfetzt und zerrissen an diesem zerstörten dunkelbraunen Körper hingen, machten die Fotos noch unerträglicher, als sie sowieso waren. Mir war schlecht. Ich schob die Akte von mir, nahm meine Zigaretten und setzte mich in den Hinterhof. Ich nahm einige tiefe Züge. Der Magnolienbaum neben mir war innert Tagen voll erblüht. Die rosa-weissen Blüten rochen stark und weckten Erinnerungen an frühere Zeiten, an andere Frühlinge. Die Vögel lärmten, und der Hund meines Büronachbarn wedelte mir aufmunternd zu. Als ich sah, wie schön die Welt sein konnte, ging es mir nicht besser. Es ging mir schlechter.

      Ich rauchte eine zweite Zigarette. Trotzdem fühlte ich mich nicht in der Lage weiterzumachen. Ich würde mich ein andermal mit den Berichten und Einvernahmen befassen. Für heute hatte ich genug gelesen. Und gesehen. Es war an der Zeit für


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