Der Fall Maria Okeke. Eva Ashinze

Der Fall Maria Okeke - Eva Ashinze


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flirtete manchmal mit James, auf eine durch und durch harmlose Art. Es war bloss Spass. Mehr war da nicht. James ist mein Therapeut. Wir kennen uns zu gut. Nein, James kennt mich zu gut, meine dunkle Seele, meine Abgründe, meine Störungen. Zwischen uns könnte nie etwas laufen nach all dem, was ich ihm erzählt habe. Das wäre echt abartig.

      «Also Moira.» James lehnte sich zurück und betrachtete mich. Das Vorgeplänkel war vorüber. Nun ging es zur Sache. «Was ist los?»

      Ich schlug die Augen nieder. Ich habe von meinem Vater geträumt, wollte ich sagen. Ich denke wieder immerzu an Maria, wollte ich sagen. Ich bin durcheinander, wollte ich sagen. Ich sagte nichts von allem. «Ich habe einen neuen Fall», sagte ich stattdessen.

      James warf mir einen Blick zu. «Weshalb bist du hier, wenn du nicht reden möchtest?»

      «Ich rede ja», sagte ich. «Ich habe einen neuen Fall.»

      James zog die Augenbrauen hoch. Nach und nach gelang es ihm, mir die Details zu entlocken. Wir sprachen über die tote Maria, die sich von der Brücke gestürzt hatte. Über die Fotos, die mir so nahe gingen. Wir sprachen über meinen Vater. Und über Maria, meine Maria, meine verschwundene Maria, von der ich nicht wusste, ob sie lebte oder tot war.

      «Meinst du, es ist klug, dass du diesen Fall angenommen hast?», fragte James schliesslich.

      Ich zuckte die Achseln. «Ich hatte keine Wahl», sagte ich.

      «Man hat immer eine Wahl.»

      Wir sassen eine Weile schweigend da.

      Vielleicht hat man immer eine Wahl. Aber man hat auch ein Schicksal, dem man nicht entfliehen kann. Es holt einen ein, welche Wahl man auch trifft.

      «Ich will nur herausfinden, was genau mit Maria passiert ist», sagte ich.

      «Mit Maria Okeke? Oder mit deiner Schwester Maria?», fragte James.

      Diese Frage stellte ich mir auch die ganze Zeit, seit ich den Fall übernommen hatte.

      «Und wird sie davon wieder lebendig, Maria, wenn du das herausgefunden hast?», hakte James nach.

      «Vielleicht», sagte ich. «Vielleicht wird ein Teil von ihr irgendwo wieder lebendig.»

      James musterte mich. «Trinkst du?», fragte er.

      Die Frage war durchaus berechtigt. Es hatte Phasen in meinem Leben gegeben, da hatte ich den Tag mit einer Flasche Sekt begrüsst und mit einer Flasche Wodka verabschiedet. Es hat durchaus seine Gründe, weswegen ich erst mit Anfang dreissig mein Anwaltsexamen abgelegt hatte. Auch das war Thema meiner Therapie gewesen.

      Ich schüttelte den Kopf. «Nicht mehr als sonst», sagte ich. Das stimmte. Ich trank meine drei, vier abendlichen Gläser Wein. Ohne die konnte ich nicht einschlafen. Ansonsten widerstand ich allen Versuchungen.

      «Tabletten? Sonstige Substanzen?»

      Wieder schüttelte ich den Kopf. Ich nahm es ihm nicht übel. James kannte alle meine Laster.

      «Du siehst nicht gut aus», sagte er.

      «Ich weiss», sagte ich.

      «Irgendwann musst du mit der Vergangenheit abschliessen», sagte James. «Dieser Auftrag hilft dir nicht dabei. Im Gegenteil.»

      «Ich habe nichts abzuschliessen.»

      «Du lügst», sagte James.

      «Nein.»

      «Du weisst, dass du lügst», sagte James.

      Das stimmte. Ich vereinbarte einen weiteren Termin mit James. Ich hatte das Gefühl, ihn im Moment bitter nötig zu haben.

       11

      Ich war kurz vor neunzehn Uhr zu Hause. Mein Magen knurrte. Alleinstehende Frauen unter vierzig sind ja angeblich bekannt dafür, dass in ihren Kühlschränken – abgesehen von ein wenig fettfreiem Joghurt – gähnende Leere herrscht. Bei mir ist das nicht so. Mein Kühlschrank ist immer gut gefüllt. Ebenso mein Vorratsschrank. Essen ist wichtig. Hungergefühle führen dazu, dass ich mich nicht konzentrieren kann. Hungergefühle machen, dass ich mich einsam fühle. Hungrig sein deprimiert mich. Durstig sein auch. Ich holte eine angebrochene Flasche Weisswein aus dem Kühlschrank und goss mir ein grosszügiges Glas ein. Dann machte ich mich an die Zubereitung meines Abendessens, eine Pasta-Primavera-Variation mit Rucola, Pepperoncini und Pecorino. Zum Essen setzte ich mich an meinen alten Kirschholztisch.

      Es ist wichtig, sich nicht gehen zu lassen, wenn man alleine lebt. Vor allem, wenn man alleine lebt. Wehret den Anfängen. Fang nie an, dein Essen auf dem Sofa einzunehmen, wenn möglich noch bei laufendem Fernseher. Wenn du das einmal machst, machst du es wieder, denn es ist ja so gemütlich, und was ist schon dabei? Und du machst es nochmals und noch einmal, und beim nächsten Mal benutzt du vielleicht nicht mal mehr einen Teller und ein Glas, sondern du isst direkt aus der Pfanne, denn so ersparst du dir den Abwasch, und irgendwann kochst du auch nicht mehr, sondern kaufst nur noch Fertiggerichte, denn was soll der Aufwand nur für dich selbst? So nimmt das Chaos seinen Lauf, und eines Tages wachst du mitten in einem Müllberg auf, denn was ist schon dabei, wenn du nicht immer sofort alle Packungen und Reste wegwirfst, du lebst schliesslich alleine, also wen soll’s gross stören? Aber verrate mir, was das über dich, über deine Wertschätzung dir selbst gegenüber aussagt? Nichts Gutes. Das musste ich erst lernen. Ein Hurra auf James. Wie auch immer. Auf jeden Fall nehme ich meine Mahlzeiten zivilisiert am Küchentisch ein und setze mich erst hinterher aufs Sofa. Und siehe da, es geht mir tatsächlich besser als früher. Ich habe einige meiner selbstzerstörerischen Verhaltensweisen geändert, aber bei weitem nicht alle. Will ich auch nicht. Mich zu gut fühlen ist nicht mein Ziel. Gott bewahre mich vor dem Zustand der dauerhaften Zufriedenheit. Etwas Langweiligeres kann ich mir nicht vorstellen.

      Nach dem Essen legte ich die Wassermusik von Händel in den CD-Player und fläzte mich mit einem weiteren Glas Wein aufs Sofa. Ich liebe klassische Musik. Sie beruhigt mich. Sie lässt mich nachdenken. Sie macht mich glücklich und wehmütig. Ich dachte an meine Schwester. Ich erinnerte mich, dass Maria und ich uns einmal nach der Schule in der Stadt verabredet hatten. Wir wollten shoppen gehen. Ich kam eine halbe Stunde zu spät. Als Maria mich sah, lächelte sie glücklich. Sie sagte: «Ich dachte schon, du kommst nicht mehr. Ich dachte, du kommst nie mehr.»

      Und dann war sie die, die nie mehr kam. Nachdem meine Schwester verschwunden war, war nichts mehr privat in unserer Familie. Die Polizei durchsuchte Zimmer, Schränke, Tagebücher, Vergangenheiten und Gedanken. Alles wurde aufgedeckt, offengelegt, entblösst. Trotzdem fanden sie keine Spur von Maria. Sie blieb spurlos verschwunden. Ich stand auf und ging zum Bücherregal, wo an prominenter Stelle ein Foto von Maria steht, aufgenommen kurz bevor sie verschwand. Wie oft habe ich das Foto schon zur Hand genommen. Wie oft habe ich es studiert, wie oft Maria angestarrt, als könnte der unterbelichtete Abzug mir irgendetwas über sie erzählen, zu mir sprechen. Ich seufzte und wandte mich ab. Ich bewegte mich am Rande gefährlicher Gewässer. Wenn ich noch weiter über Maria nachdachte, würde ich mich betrinken müssen. Und da ich am Morgen Verhandlung am örtlichen Gericht hatte, kam das nicht in Frage. Ich stellte mein Glas zur Seite und nahm die Akten zur Vorbereitung für den morgigen Tag zur Hand.

      Später streckte ich mich auf meinem Futon aus. Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, vor schwierigen Verhandlungen Meditationsübungen für gutes und leichtes Einschlafen zu praktizieren. Ich versuchte, an nichts zu denken. Da, wo sich normalerweise meine Gedanken befanden, sollte ein grosses weisses Loch entstehen. Es funktionierte nicht. Da, wo sich normalerweise meine Gedanken befanden, befand sich nur ein Gedanke, nämlich der an meine Schwester. Ich brach die Übungen ab. Ich trank ein letztes Glas Wein und rauchte eine Zigarette am Fenster. Wieder war die Nacht klar, und ich konnte die Sterne sehen. Da hatte ich eine Art Eingebung: Vielleicht sollte ich bei der toten Maria ähnlich vorgehen wie die Polizei bei meiner verschwundenen Maria. Vielleicht sollte ich nach Spuren suchen. Vielleicht sollte ich ihr Zimmer durchsuchen, ihren Schrank, ihr Tagebuch und ihre Vergangenheit.

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