Geschichten aus der Anderswelt. Hans-Joachim Rech
Personen angewachsenen Intimorganisation, so nannten wir unsere Familie in jenen Tagen, unterzubringen sei. Nach Studium der einschlägigen Zeitungen und unter selbstloser Hilfe eines Kollegen gelang es uns kurzfristig, eine Wohnung in Berlin-Kreuzberg zu bekommen. Bei dieser Wohnung handelte es sich um die Hinterlassenschaft eines ehemaligen kaiserlichen Offiziers, der sich den damaligen Verhältnissen entsprechend großbürgerlich und damit klassizistisch etablierte. In einem Haus in der Reichenberger Straße, unweit des Landwehrkanals, als Eckhaus zur Lausitzer Straße gebaut, bezogen wir in der ersten Etage zu beiden Seiten unsere Wohnung, und ich muss sagen, dass mir bis dahin jegliche Vorstellung darüber fehlte, wie die bürgerliche Wohlstandsgesellschaft des ausgehenden Neunzehnten und beginnenden Zwanzigsten Jahrhunderts zu leben und vor allem zu residieren pflegte. Die angemieteten Räumlichkeiten maßen über alles mehr als Einhundertfünfzig Quadratmeter und das zu einem Preis, der mehr als freiwillige Spende Berechtigung finden könnte, geschweige denn als Mietsumme. Wie dem auch sei, wir waren mehr als froh über unser neues Heim, wenn sich auch die drei Menschlein in diesem Irrgarten der Räume hoffnungslos verloren. Eingangs der Wohnung schloss sich ein in der Unendlichkeit verlierender Korridor oder Flur an, was der Wohnung einen Hauch von lebendiger Vergangenheit, aber auch eine, in leichtem Anflug unerklärliche, ein wenig unheimliche Ausstrahlung verlieh. Seltsamerweise gestand mir meine Frau noch am gleichen Abend, der erste übrigens in unserer gemeinsamen Wohnung, dass sie sich vor diesem langen Korridor fürchtete. Ich versprach mein Bestes zu tun, um unser trautes Heim so anheimelnd wie möglich zu machen. Neue Tapeten, neue Lampen, frische Farben, viel Licht überall, besonders im Korridor, was meiner Angebeteten und Mutter meiner Tochter sehr gefiel. Zur rechten und linken des Korridors lagen die großzügig bemessenen Zimmer der Wohnung, eine Küche, ein Wohnzimmer, Schlaf- und Kinderzimmer sowie ein Zimmer für das Hausmädchen, das wir uns aus menschlichen, weniger aus finanziellen Gründen nicht halten wollten. Meine Frau verabscheut die Sklaverei. Darüber hinaus gab es noch ein Badezimmer, das von der Ausgestaltung und Größe her einer mittleren Badeanstalt Konkurrenz machen konnte. In der Küche befand sich neben einem mächtigen Herd, zu beheizen mit Kohle, Holz und anderen festen Brennstoffen, noch der Heizkessel, der für das warme Wasser im Haushalt zuständig war. Klugerweise hatten sich die Baumeister beim Einbau damals für die Nordseite entschieden, so dass auch in heißen Sommern der Aufenthalt in der Küche erträglich war. Zur Freude meiner Frau entdeckten wir neben dem Herd, gut getarnt durch eine übertapezierte Tür, die Speisekammer, die uns während unserer Anwesenheit in dieser Wohnung gute Dienste leistete. Bernadette, so nannten wir unsere Tochter, bezog das ihr gemäße Kinderzimmer auf der Ostseite, durch dessen Fenster die morgendlichen Sonnenstrahlen fielen und ihr das Aufwachen, nicht jedoch das Aufstehen leichter machten. Im Gegensatz zu allen anderen Zimmern erschien uns das Kinderzimmer kleiner als die verbleibenden Räume, was uns aber im Hinblick auf die Gesamtgröße der Wohnung nicht störte. Bernadette verfügte über mehr Platz zum Spielen und Toben als andere gleichaltrige Kinder, und so liefen die ersten ehelichen Jahre mit all ihren Höhen und Tiefen doch recht sorglos an uns vorbei. Es gab die eine oder andere Kinderkrankheit, was ganz normal ist, es gab die ersten Querelen im Kindergarten. Irgendwann mussten wir uns an die Tatsache gewöhnen, dass unsere Tochter Bernadette kein Säugling mehr war, sondern ein Kind von sechs Jahren, das sehr selbstbewusst nicht nur durch unsere Wohnung tollte. Eigentlich waren wir mit der Entwicklung sowohl wirtschaftlich, mein Einkommen entsprach dem damaligen Niveau gut dotierter Diplomstellen, als auch familiär, wir erwarteten unser zweites Kind, sehr zufrieden. So maßen wir den anfänglichen, nächtlichen Störungen durch Bernadette keine übermäßige Bedeutung zu, beruhigte uns doch die seit Jahren bekannte Kinderärztin mit den Worten, dass es für Kinder dieses Alters durchaus normal sei, unruhige Träume zu haben. Hinzu käme noch die Schwangerschaft meiner Frau, die auf ein Kind doch gewisse Einflüsse ausüben konnte. Wir sollten uns nicht weiter sorgen und den Dingen ihren natürlichen Lauf lassen. Würde es widererwarten aber zu einer Steigerung des nächtlichen Unruheverhaltens unserer Tochter kommen, so stünde sie uns jederzeit zur Verfügung. Meine Frau und ich begnügten uns mit dieser Erklärung, die uns im Hinblick auf die wissenschaftliche Begründung plausibel und glaubwürdig erschien. Im weiteren Jahresablauf gab es keine beunruhigenden nächtlichen Attacken mehr, und die ganze Angelegenheit geriet in Vergessenheit. Bernadette wurde eingeschult und entwickelte sich gemäß den elterlichen Erwartungen, die alle Mütter und Väter auf der Welt in ihre Kinder setzen, recht gut. Das Jahr ging zur Neige, die bekannten Festlichkeiten standen vor der Tür, und unsere Tochter bekam nicht nur zum Weihnachtsfest reichlich Geschenke von der allseits hofierten Verwandtschaft, sondern noch ein Geschwisterchen dazu, unsere zweite Tochter Beatrix, die schon nach wenigen Tagen ihre große Schwester Bernadette an Lautstärke und Lebendigkeit übertraf, was uns nicht immer in euphorische Stimmung versetzte. Das neue Jahr kam, die Zeit verflog wie im Wind, meine Tätigkeit bei einem bedeutenden Baumaschinenhersteller wurde zur Unentbehrlichkeit deklariert, was mir einerseits schwindelerregende Einkünfte bescherte, andererseits in regelmäßigen Abständen die der Familie zugedachten Wochenenden versauerte, musste ich doch ein über das andere Mal meine heiligen Zusagen brechen und wohl oder übel meinem hohen Boss untertänig sein. Der April des Jahres 1974 ging in die Geschichte unseres Familienlebens ein wie die Geburtstage unserer Kinder. Genau war es der Achtzehnte April des genannten Jahres, ein Freitag, als sich in der Nacht folgendes ereignete. Lautes Weinen und Jammern erscholl kurz vor Elf Uhr abends aus dem Zimmer unserer Tochter Bernadette. Da sich das eheliche Schlafzimmer entgegengesetzt auf der anderen Seite des langen Korridors befand, vermischten sich die klagenden Rufe des Kindes mit den letzten Starts und Landungen von Flugzeugen aus aller Herren Länder, denen durch Sondergenehmigungen die Erlaubnis zur nächtlichen Überfliegung Berlins gestattet wurde. Die an unserer Wohnung vorbeiführende Ausfallstraße tat ihr übriges, und aus diesem Grund blieb die Tür unseres Schlafgemachs an diesen Freitagen stets geschlossen. Allein der mütterliche Instinkt meiner Frau, ihre ausgeprägte Sensibilität im Umgang mit den Kindern und auch meine ungewöhnliche Unruhe, ließen uns fast gleichzeitig erwachen. Beatrix, die Jüngste in unserem Kreis, bekundete keinerlei Interesse am Geheul ihrer großen Schwester und schlief den Schlaf der kindlichen Unschuld.
"Was ist das - hörst du es auch, das kommt aus Bernadettes Zimmer. Mein Gott, das Kind hat wieder diese schrecklichen Träume!"
Laut und stoßweise rief meine Frau diese Worte in die spärlich beleuchtete Atmosphäre unseres Schlafzimmers, und wie auf ein geheimes Signal hin stimmte Beatrix, aufgeschreckt aus ihrem Schlummer, in das Konzert nächtlicher Beunruhigung ein.
"Ist schon gut, ich schau nach - das sind bestimmt diese blöden Flugzeuge. Wieso dürfen die hier nachts über die Stadt fliegen. Wo Millionen Menschen leben? Unglaublich."
Ich bemühte mich dem Tonfall meiner Worte ein wenig Entrüstung zu verleihen, aber die rechte Überzeugung wollte sich nicht einstellen. Raschen Schrittes erreichte ich das Zimmer unseres Kindes, und als ich die Tür zu Bernadettes Schlafraum öffnete, erschrak ich beim Anblick des Mädchens derart, dass ich laut nach meiner Frau schrie, worauf diese wie ein Wirbelwind herbeieilte, zum Bett von Bernadette stürzte und ihr Kind liebevoll und beschützend in ihre Arme nahm. Aber so sehr sich meine Frau auch mühte, unsere Tochter streichelte, liebkoste, mit ihr leise und einschläfernd sprach, nichts konnte den gestörten Nachtschlaf Bernadettes retten, geschweige denn sie umstimmen.
"Mama - Mama - überall sind Gesichter - da in der Wand - so schlimme Gesichter - viele Köpfe sind da, so viele Köpfe. Sie weinen und schreien - Mama - ich habe solche Angst."
Meine Frau und ich brachten in dieser Nacht kein Auge mehr zu, dafür schlief unsere Tochter im ehelichen Bett wie in Abrahams Schoß. Auch Beatrix besann sich kurzfristig eines Besseren und stellte ihr solidarisches Geschrei auf schmatzendes Mümmeln um, als meine Frau ihr kurzerhand die Brust in den Mund steckte. Die nächsten Tage verbrachte mein Eheweib mit Bernadette bei diversen Kinderärzten in Berlin, aber trotz aller Bemühungen gelang es nicht, die Ursachen für das Verhalten unserer Tochter zu ergründen.
"Vielleicht liegt es an den Tapeten, das Muster ist schon beeindruckend. Diese riesigen Blumen, da kann ein Kind schon die eine oder andere geistige Verbindung herstellen. Was wissen wir Erwachsenen schon von der Vorstellungswelt eines Kindes? Allein unsere eigenen Erinnerungen geben uns einen winzigen Einblick in die Beweglichkeit kindlicher Fantasie. Und im vergangenen Jahr war es genauso - sagen Sie? Und wie war es davor - haben Sie dieses Verhalten schon vorher beobachtet?"