Geschichten aus der Anderswelt. Hans-Joachim Rech
selbst machte seine Runde als Arzt so gut er konnte, traf Überlebende in Kellern, im Grunewald, in Ruinen und Laubenkolonien. Dann jedoch musste Maibaum seine Tätigkeit ganz aufgeben und konnte mit seiner Familie nur noch auf ein Wunder und auf das baldige Ende des Krieges hoffen. Und dann kam jener Achtzehnte April Neunzehnhundertvierundvierzig. Der letzte Transport Berliner Juden sollte nach Auschwitz rollen. Alles was an Polizei und Sondereinsatzkommandos verfügbar war, durchkämmte das von Berlin, was noch übrig war. Auch die Reichenberger Straße, die in unmittelbarer Lage zum Landwehrkanal bei der damaligen bürgerlichen Gesellschaft und bei den jüdischen Familien begehrt war. Die Gestapo wusste das und Maibaum hat es irgendwie auch erfahren. Jedenfalls stürmten die Nazis frühmorgens das Haus in der Reichenberger Straße, aber außer einer erschreckt wirkenden Luise, fanden sie niemanden vor. Alles durchsuchte diese Bande, alles stellten sie auf den Kopf, traten Türen ein, Schränke, zerschlugen Wände und Decken, aber jene kleine Holzfüllung in Luises Zimmer bemerkten sie nicht. Dann nahmen sie sich Luise vor. Mein Gott, was hat das Mädchen geheult. Sie muss vor Angst um ihr eigenes Leben fast durchgedreht sein. Und dann hat sie der Gestapo gesagt, dass sie nicht weiß wo die Maibaums sind, sie wäre eben selbst gekommen, was die Gestapo-Schergen bezeugen konnten, die vor dem Haus auf der Lauer lagen. Sie, Luise, wäre die letzten Tage bei ihrer Tante gewesen, die zu den Ausgebombten gehöre und überdies nicht mehr regelmäßig zu Maibaums gegangen, weil das viel zu gefährlich sei, wegen der Bombenangriffe. Ihr Jammern und Klagen muss dem diensthabenden Wachführer auf die Nerven gegangen sein, denn er befahl ihr zu verschwinden und sich nie mehr hier blicken zu lassen. Und dann gab er ihr Anweisung sich unverzüglich auf der nahegelegenen Dienststelle zu melden, um ihre Aussage zu machen. Luise musste ihm ihre Ausweise, ihr Arbeitsbuch und die Freistellungsbescheide aushändigen und konnte dann gehen. Schluchzend verließ sie das Haus an der Reichenberger Straße und lief durch die zerbombte Stadt zu ihrer Tante, die in Lichterfelde bei einer Freundin untergekommen war. Luise hat die Maibaum-Familie nie mehr wiedergesehen. Luise, ihre Tante und die Freundin der Tante verließen am nächsten Tag auf ihren Fahrrädern Berlin und fuhren aufs Land, zu einer entfernten Kusine, die in der Nähe von Großbeeren eine kleine Landwirtschaft betrieb. Dort blieben alle bis zum Jahr Neunzehnhundertfünfundvierzig. Als der russische Großangriff auf Berlin begann, verweilten sie zunächst noch auf dem Land, denn dort waren sie halbwegs sicher vor Bombenangriffen. Doch dann wurde es auch in Großbeeren ernst und Ironie des Schicksals, Luise, ihre Tante und die Freundin der Tante, flüchteten zurück nach Berlin, das rundum von der Roten Armee eingeschlossen war. Es gab kein Entrinnen mehr. Auf ihrer Flucht kamen die Frauen an unserer Flakbatterie vorbei, als ein neuer Luftangriff gemeldet wurde. Dadurch sind Luise und ich uns ein wenig nähergekommen, und sie hat mir ihre Geschichte erzählt. Meine jetzige Frau, die Martha, habe ich nach Rückkehr aus der Gefangenschaft Neunzehnhundertzweiundfünfzig kennen gelernt. Eine tragische Zeit. Nach dem Angriff wurde Luise aufgegriffen und einem Feldlazarett zugeteilt. Niemand überprüfte ihre Personalien, denn Tante und Freundin kamen bei diesem Angriff ums Leben. - Den Ausweis verloren, verbrannt, was weiß ich. So kam mancher zu einer neuen Identität. Luise wurde nach der Kapitulation mit vielen anderen Rot-Kreuz-Helferinnen von den Russen weggebracht. Es gibt bis heute keinen Hinweis auf ihren Verbleib. Wahrscheinlich liegt sie mit all den anderen in irgendeinem Massengrab. Was die russischen Soldaten mit den Rot-Kreuz-Schwestern und vielen anderen Frauen und Mädchen gemacht haben, brauche ich Ihnen wohl nicht extra erklären. Es war grauenhaft, das Schreien der Frauen und Mädchen klingt mir noch in den Ohren. Überall in den Straßen machten die Russen Jagd auf sie. Mehr möchte ich dazu nicht sagen, will ich auch nicht. Dann haben sie mich und meine Kameraden kassiert. Ab ging es nach Osten, in den Ural. Erzbergwerk. Sieben lange Jahre."
Maschultke stand auf und ging zum Fenster, öffnete es weit und ließ die angenehm frische Abendluft in das Wohnzimmer. Wir hockten wie versteinert auf dem Sofa und waren nicht fähig ein Wort zu sagen.
"Na - nun trinken Sie doch Ihre Schorle. Die wird ja sonst schal. Oder möchten Sie lieber was anderes?"
"Wie - was - oh ja - ich - wir meinen nein, es ist schon gut, wir trinken die Schorle - danke der Nachfrage. Danke" stotterte meine Frau verlegen.
"Bleiben nur noch die Maibaums. Was geschah mit der Familie Maibaum? Stellen Sie sich vor, sie müssten einen ganzen Tag in einem Verschlag zubringen, einer licht- und einer schlecht belüfteten Nische, eingepfercht zu sechst, gepeinigt von Todesangst, immer damit rechnend, doch noch entdeckt zu werden. Diese Angst, die Menschen in den Wahnsinn treibt, die um ihr Leben zitternden Kinder. Was glauben Sie, wie es in der Enge dieses Gefängnisses zugegangen ist? Grauenvoll diese Vorstellung, einfach grauenvoll. Und dann ist die Gestapo mit ihrem kompletten Verein abgerückt. Unverrichteterdinge. So ein Aufmarsch bleibt ja nicht verborgen. Diese Strolche sind abgehauen ohne die Maibaums. Das ist nachgewiesen und schriftlich festgehalten. Die Familie Maibaum schien gerettet. Aber nun drohte eine andere Gefahr, nämlich die der Wohnraumbewirtschaftung. Ausgebombte Familien würden in das nun frei gewordene Anwesen der Maibaums einrücken und irgendwo mussten Maibaums bleiben. Doch daran dachte die gepeinigte Familie nicht. Sie dankte ihrem Gott für die Rettung. Und dann geschah etwas, dass sich niemand bis zum heutigen Tag erklären kann. Ein Bergungstrupp kam die Reichenberger Straße entlang, Soldaten, die nach Verschütteten suchten. Mit speziellem Gerät und mit Suchhunden. Plötzlich springt aus einem Kanalrohr nahe dem Landwehrkanal eine Ratte und rennt in das Maibaum-Haus. Ehe sich der Hundeführer versieht, reißt sich ein Schäferhund los und jagt der Ratte hinterher. Ein Tumult geht durch das Haus, der wie entfesselt bellende Hund, der rufende und Kommandos brüllende Soldat, und eine Gruppe feixender und lachender Kameraden, die dem Hundeführer hinterher stolperten, hinein in das Maibaum-Haus. Ob Schicksal oder Zufall, Bestimmung oder Tragik, der Hund rannte hinauf genau in die Wohnung, in der Sie jetzt wohnen und in der sich damals die Maibaum-Familie versteckte. Und war es nun wieder Schicksal, Bestimmung oder einfach der Instinkt des Tieres Verschüttete zu suchen und zu finden; der Hund kratzte und biss an der Holzplatte, sprang dagegen und war nicht zu beruhigen. Die nachfolgenden Soldaten waren ratlos, allein der Hund ließ nicht locker. Selbstverständlich hörten die Maibaums den Lärm, den unnachgiebigen Hund und die Worte der Soldaten. Aber noch einmal gewährte das Schicksal den Maibaums eine Frist, denn die Soldaten rückten ab und verließen die Wohnung. Schließlich waren sie angetreten um Verschüttete zu bergen, nicht aber um Ratten zu jagen. Als die Männer das Haus verließen wurden sie vom hinzukommenden Offizier in Empfang genommen, der sich in Begleitung eines Gestapo Mannes befand. Es hat wüste Beschimpfungen gegeben und die Androhung von Kriegsgericht wegen Plünderns, aber dann konnten die Soldaten das Geschehen aufklären und den Sachverhalt erläutern, dass nämlich der Hund einer Ratte nach sei, genau in das Maibaum-Haus bis in die oberste Etage ins Eckzimmer. Dort habe er sich vor eine Holzfüllung gestellt, hinter der die Ratte verschwunden sein muss und wie von Sinnen gebellt und an dem Holz herumgekratzt. Aber was soll hinter einer Holzverkleidung schon sein außer Mauerwerk. Und die Ratte hatten sie nicht mehr gesehen. So sei es gewesen. Plötzlich wurde der Gestapo-Mann hellhörig, schrie etwas von jüdischen Saboteuren die sich in dem Haus versteckt hielten und beorderte den Zug nochmals in die Maibaumsche Wohnung. Dann begannen die Männer die Holzverkleidung aufzureißen und fanden das Versteck mit der Maibaum-Familie. Noch am gleichen Tag gingen sie mit dem letzten Transport nach Auschwitz, wo sich ihre Spur verliert."
Herr Maschultke schwieg einen Moment und holte tief Luft.
"Das ist die Geschichte des Hauses in der Reichenberger Straße, die Geschichte der Familie Maibaum und einiger Personen, die mit dieser Familie irgendwie zu tun hatten. Die Gesichter, die Ihre Tochter im Traum sieht, das sind die angsterfüllten Antlitze der Kinder und ihrer Eltern, die ihre Todesangst nicht heraus schreien durften, denen aber letztlich ihr Schweigen in dieser Wandnische zum tödlichen Verhängnis wurde. Ihre Angst hat sich in den Balken, den Wänden und Decken dieses Hauses festgesetzt. Und ich sage Ihnen, Sie sollten aus diesem Haus ausziehen. Es ist besser für Sie und für Ihre Kinder. Das ist alles, was ich Ihnen dazu noch sagen kann. Es ist spät geworden, Zeit zum Schlafen, ich habe einen langen Tag morgen. Eine gute Nacht und kommen Sie gut nach Hause, wo immer das auch sein möge."
"Auf Wiedersehen - Herr Maschultke - auf Wiedersehen" stammelten wir bruchstückweise unseren Abschiedsgruß. Die Beine waren eingeschlafen, und in unseren Köpfen drehte sich die Geschichte einer Stadt, einer Familie, und wir hatten nur noch einen Wunsch, so schnell wie möglich in unsere Wohnung zu kommen zu