Geschichten aus der Anderswelt. Hans-Joachim Rech
alte Maschultke schwieg und trank von seiner Schorle. Dann stand er auf, ging zu einem alten Nussbaumsekretär, öffnete eine Lade und entnahm daraus einen vergilbten Umschlag. Vorsichtig, als könnte er etwas darin zerbrechen, glitten seine Finger in die knisternde Papierhülle und zogen behutsam ein Bündel Papiere hervor. Ich glaubte Zeitungsausschnitte zu erkennen und wurde in meiner Vermutung bestätigt. Ohne weitere Erklärungen legte Maschultke meiner Frau und mir die Presseausrisse auf den Tisch, lehnte sich in seinen Sessel zurück und atmete tief aus. Dann trank Maschultke nochmals, wischte sich über die Lippen und begann mit seiner Erzählung.
"Es war im Jahre Neunzehnhundertvierundvierzig, genau im April, der Achtzehnte, zwei Tage vor Führers Geburtstag. Die letzten Juden wurden aus Berlin deportiert, nach Auschwitz und Lublin-Madjanek, was uns - mir - damals aber nicht bekannt war. Darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort, auch wenn es für Sie vielleicht wie eine abgedroschene Ausrede klingt. Umsiedlung in den Osten hieß es, aber bei der Geschwindigkeit, mit der die Russen auf Deutschland vorrückten haben wir uns gefragt, was es für einen Sinn macht noch umzusiedeln, wenn doch alles verloren geht. Wir glaubten um diese Zeit nicht mehr an den Endsieg. Ich war als Soldat bei der Luftverteidigung der Reichshauptstadt eingesetzt und erlebte Tag für Tag und Nacht um Nacht die fürchterlichen Bombenangriffe. Wenn Deutschland noch siegen wollte, dann musste es sich verdammt noch mal beeilen. Hier in der Cottbusser Straße fielen Bomben wie überall, aber unser Haus, das Haus meiner Eltern und Großeltern, blieb wie durch ein Wunder verschont. Ein paar kaputte Fensterscheiben, ein paar Dachpfannen gingen zu Bruch, aber das waren Lappalien gegen die Vernichtung ganzer Stadtteile. Ich habe die Menschen rennen sehen, wie Wahnsinnig schreiend vor Angst und Schmerzen, wenn sie Phosphor überschüttet durch die lichterloh brennenden Straßen taumelten. Zum Landwehrkanal wollten sie, aber die meisten brachen unterwegs zusammen und verbrannten elendig. Der Asphalt auf den Straßen verflüssigte sich ob der ungeheuren Hitze und regelrechte Teerbäche schossen die Straßen hinunter, schwappten über Gehsteige hinein in die Keller, wo Tausende auf ein Ende des Infernos hofften. Nach solchen Angriffen lag ein Gestank über der Stadt, als stünden sämtliche Krematorien der Welt an diesem Ort. Und irgendwie waren die deutschen Städte während des Krieges alles große Krematorien. Voll mit Menschen. Die Keller und Bunker wurden zu Öfen, die Bomben und der Phosphor zum ewigen Feuer. Es war eine fürchterliche Zeit. Zwischen den Angriffen mussten wir Flak-Soldaten Aufräum- und Rettungsdienste leisten, rund um die Uhr. Und dann machten fanatische und aufgehetzte Gruppen aus der Bevölkerung Jagd auf abgeschossene feindliche Flieger. Ich habe nie einen lebend gesehen, und wir haben Dutzende Bomber runtergeholt. Auch ihre Leichen wurden selten entdeckt, denn sie verbrannten mit jenen Menschen, denen sie zuvor den Tod brachten. Einige behaupteten und schwörten darauf, dass sie gesehen haben, wie die SS und Hitlerjugend die gefangenen Amis und Engländer gefesselt und lebend auf die Scheiterhaufen warfen, auf denen die ungezählten Leichen in der Stadt verbrannt wurden. Es war ein einziges Chaos. Na ja - und in diesem Chaos interessierte sich kaum jemand für den Abtransport von Juden, die noch versteckt im Stadtgebiet lebten. Es wurde ja nicht einfacher durch die täglichen Luftangriffe, im Gegenteil. Immer mehr Wohnraum wurde zerstört, immer weniger Verstecke standen zur Verfügung. Die Standgerichte jagten durch Berlin auf der Suche nach Opfern, die sie an der nächsten Ecke liquidieren konnten. Es sind damals viele Menschen auf diese Weise umgekommen. Ein falsches Wort, ein unbedachter Griff nach einem Stück Brot oder Wurst, schon wurden die Unglücklichen wegen Wehrkraftzersetzung oder Plünderns standrechtlich erschossen. Ich habe das alles erlebt - hautnah. Aber jetzt bin ich etwas vom Thema abgekommen doch ich denke, dass es wichtig ist die Hintergründe zu verstehen, warum das passierte, was geschah. Also im April sollten die letzten Transporte mit Juden aus Berlin in die Vernichtungslager durchgeführt werden, was hinsichtlich der katastrophalen Verkehrslage enorme Probleme verursachte. Das Haus, in dem Sie wohnen, gehörte einer Familie Maibaum. Herr Dr. Maibaum war ein angesehener und erfolgreicher Mediziner an der Berliner Charité und arbeitete mit dem alten Sauerbruch zusammen. Maibaum war sehr beliebt, nicht nur bei seinen Patienten, sondern bei allen Anwohnern in der Reichenberger Straße. Das änderte sich auch nicht, als die Nazis an die Macht kamen, wenngleich sich die Lebensbedingungen für Maibaum und seine Familie drastisch verschlechterten. Maibaum hatte eine Frau und vier Kinder. Zwei Jungen und zwei Mädchen. Und noch eine Zugehfrau für den großen Haushalt. Dann verboten sie Maibaum die Klinik, sie warfen ihn hinaus. Selbst Sauerbruch konnte dagegen nichts tun. Eines Tages verschwand die Zugehfrau, ebenfalls eine Jüdin und wurde nie mehr gesehen. Sie ist in Treblinka ermordet worden. Die verbleibenden Juden organisierten ihren Lebensalltag so gut es ging, aber als immer mehr abgeholt wurden und für immer verschwanden, bekam es auch Maibaum mit der Angst. Seine Kinder durften keine Schule mehr besuchen, ihm wurde verboten zu praktizieren, dennoch tat er es heimlich und half dadurch einigen seiner Landsleute zu überleben. In dem Haus, in dem Sie ihre Wohnung haben, da versorgte Maibaum die vor Angst halb wahnsinnigen Menschen mit dem was er noch hatte. Inzwischen war es auch zu den letzten Berliner Juden durchgedrungen, was da im Osten mit ihnen geschah. Nur wir Deutschen, wir hatten von alledem keine Ahnung. Und wir wollten auch gar nichts wissen, denn man hatte genug mit sich selbst zu tun. Wie dem auch sei, bis zum April Neunzehnhundertvierundvierzig wurde Maibaum von den Nazis verschont, aus welchen Gründen auch immer. Gemunkelt wurde, ein hoher Nazi-Offizier hätte seine Hand über Maibaum gehalten, weil dieser seiner Frau bei einer komplizierten Geburt, bei der es auf Leben und Tod stand, geholfen hatte zu überleben. Ob an dieser Sache was dran ist, wurde nie geklärt. Es gibt auch keinen Menschen mehr, der darüber etwas weiß. Und diejenigen die noch Auskunft geben können, schweigen wie die Gräber."
Maschultke unterbrach seine Erzählung und nahm einen kräftigen Schluck Schorle. Wir saßen stocksteif auf dem Sofa und wagten kein Wort zu sagen, so sehr ging uns Maschultkes Schilderung unter die Haut. Wir fühlten uns ausgetrocknet, trauten uns aber nicht von unserer Erfrischung zu kosten, wollten wir doch endlich erfahren, was damals in unserer Wohnung geschah.
"Ja - wo war ich denn noch, ach - der alte Maibaum. Sehen Sie, in Ihrer Wohnung gab es zur damaligen Zeit ein Mädchenzimmer. Dieses Zimmer war durch eine schmale Tür zugänglich, die durch einen beweglichen Schrank geöffnet und geschlossen werden konnte. Natürlich hatte das Mädchenzimmer auch eine richtige Tür, aber die wurde nur vom Hausmädchen benutzt. Wenn Maibaums Kinder nicht schlafen konnten oder Angst hatten, so habe ich es nach Maibaums Tod von Luise, so hieß sie, erfahren, kamen die Kinder durch diese Geheimtür in Luises Kammer und in ihr Bett, wo sie Trost und einige Stunden Geborgenheit fanden. Luise wurde nach Kriegsende von russischen Soldaten mitgenommen. Ich habe sie nie wieder- gesehen. Was mit Maibaum und seiner Familie passierte; hier in den Zeitungsartikeln steht die offizielle Version oder vielmehr jene, die sich aus all den Informationen zusammen stricken ließ, die damals bekannt waren. In erster Linie ging es darum herauszufinden, ob es noch Hinterbliebene, Erben oder andere Angehörige von Maibaum gab, die Anspruch erheben konnten auf das Anwesen in der Reichenberger Straße. Aber es meldete sich niemand, und nach zehn Jahren wurde das Haus an einen Berliner Interessenten verkauft. Aber zurück zu Maibaum. Natürlich wussten er und seine Frau von den heimlichen Besuchen ihrer Kinder in Luises Zimmer und waren recht froh, dass Luise, eine Polendeutsche übrigens, sich so liebevoll um die gemeinsamen Kinder kümmerte. Das war das Einzige, was uns in dieser Zeit auffiel, dass ein deutsches Mädchen bei einer jüdischen Familie Hausdienst leistete. Irgendwie muss also etwas dran gewesen sein, dass da ein hohes Nazi-Tier seine Finger im Spiel hatte. Für Luise wurde die Maibaum-Familie zum Lebensinhalt, denn ihre eigenen Eltern wurden vor Kriegsbeginn von den Polen nahe Bromberg erschlagen. In Luises Zimmer, damaligem Zimmer, die Trennwand mit der Geheimtür wurde längst herausgerissen, lag im Eckbereich des Fensters zur Lausitzer Straße, da wo die Deckenbalken mit dem Dachgestühl zusammenlaufen, ein baubedingter Hohlraum, der weder von außen noch von innen eingesehen werden konnte. Durch einen Zufall müssen Maibaums Kinder auf dieses Versteck gestoßen sein. Um in diesen Hohlraum zu gelangen, musste lediglich eine Holzplatte unter dem Fenstereck aus dem Rahmen herausgenommen werden, und schon konnte man durch die Öffnung in die Nische hinter der Wand kriechen. Ein fabelhafter Unterschlupf, wie sich später herausstellte. Natürlich war es für sechs Personen nur ein Notbehelf, aber wenn die Gestapo die Maibaums abholen wollte bestand immer noch die Möglichkeit, sich in dieser Nische zu verbergen. Die Holzfüllung wurde von innen mit Riegeln versehen, so dass diese selbst einem Stiefeltritt standhalten würde. Bis auf Maibaums wohnte niemand mehr im Haus, alle jüdischen Bewohner waren bereits vor