Tödliche Tour. Greg Moody
waren als die in Frankreich. Die Amerikaner begriffen es einfach nicht. Und sie würden es nie begreifen. Sie würden nie begreifen, welche Gefahr es bedeutete, welche Kraft man brauchte, welchen Stil und vor allem welches Verlangen, ein Champion zu sein. Nicht einmal ihre eigenen Champions begriffen das. Amerikanische Champions waren gepolsterte Fleischklöße. Wie viel Finesse braucht man schon dazu, sich auf einem mit Linien markierten Rasen ineinander zu verkeilen?
Amerikaner.
Colgan sah nach unten und erblickte seine Nachbarin Yvette auf ihrem Balkon. Sie schaute nach oben und ihre Blicke trafen sich. Ihrer schien zu fragen, warum er letzte Nacht verschwunden war; es hatte sich doch alles gut angelassen.
Er zuckte mit den Schultern. C’est la vie. Ich schlafe gerne in meinem eigenen Bett, Chéri.
Colgan drehte sich um und lief barfuß durch seine Küche, die größte Küche, die er je in einer Pariser Wohnung gesehen hatte. Aber, sagte er sich, der Wand, dem Sofa, niemand bestimmtem, dies ist ja auch nicht die Wohnung von irgendwem.
»Es ist schön, König zu sein.«
Er liebte große Küchen. Er liebte Lebensmittel. Jean-Pierre schnitt zwei Scheiben von einem frischen Laib Weißbrot ab und schob sie in seine neueste Errungenschaft: einen amerikanischen Toaster. Ausgesprochen hübsch. Voll verchromt und sehr Hightech. Jegliche Technologie, die je zum Toasten von Brot erfunden worden war, steckte darin. Und das war für ihn gerade gut genug.
Er schenkte sich noch eine Tasse Kaffee ein. Und noch ein Glas Saft. Dann setzte er sich mit der neuesten Ausgabe von L ’Equipe an den Küchentisch. Das Blatt wird vielleicht doch überschätzt, dachte er, als er die Sporttageszeitung überflog. Sein Name tauchte erstmals auf Seite drei auf. Irgendetwas lief hier falsch. Er würde mit Martin über sein Marketing sprechen müssen.
Marketing. Noch so eine amerikanische Erfindung. Sie müssten nur noch fahren können.
Das Gefühl, dass irgendetwas in der Wohnung, außerhalb seiner unmittelbaren Wahrnehmung, nicht stimmte, traf ihn nicht direkt. Es beschlich ihn so, wie eine leise tickende Uhr einen Traum stört. Nichts Plötzliches. Irgendetwas stimmte einfach nicht ganz.
Er lehnte sich zurück und schaute sich im Raum um. Irgendetwas. Nur wo? Wo?... Der Toaster, da, der Toaster. Eine dünne weiße Rauchschwade stieg aus dem Gerät. Colgan ließ seine Zeitung fallen und eilte hinüber zur Arbeitsplatte.
Er schaute in den Toaster und rüttelte dann am Griff. Das Brot sprang heraus. Immer noch weiß. Immer noch kalt. Mittlerweile müsste es doch braun und heiß sein.
Colgan drückte den Griff wieder runter, aber der rastete nicht ein. Er drückte fester. Dann schlug er ihn hinunter. Das Ding wollte nicht funktionieren.
»Du gehörst in die Seine«, murmelte er.
Colgan zog das Brot heraus und lugte in seinen neuen hochglanzpolierten, vollverchromten, amerikanischen Hightech-Toaster. Für ihn musste das Ding doch funktionieren. Maschinen funktionierten immer für ihn, als zwänge die schiere Macht seiner Persönlichkeit sie dazu. Aber diese hier verweigerte sich.
Indem er das Gerät zur Seite drehte, konnte Colgan einen tieferen Blick in das Innere werfen. Die Sonne brachte die Drähte und die Auskleidung zum Vorschein – alles schien in bester Ordnung.
Aber da – da war irgendwas – unten am Boden des Toasters.
Colgan griff nach einem Messer und stocherte darin herum. Er schmierte die, nun ja... es schien Knetmasse zu sein, über den ganzen Boden des Toasters. Er kratzte daran, er piekste hinein, er scharrte daran herum.
Kein Zweifel. Dieses Ding würde in den Laden zurückwandern mit einem verärgerten Champion im Schlepptau, der sich sehr laut darüber wundern würde, wie die Verkäufer dazu kämen, Kinder Knetmasse in einen brandneuen, amerikanischen Hightech-Toaster fallen zu lassen.
Colgan schob ein Stückchen der Knetmasse an die Seite und schaltete den Toaster ein. Die Drähte fingen langsam an zu glühen. Wenn er jetzt die Knete noch herausbekäme, würde das Ding vielleicht endlich funktionieren.
Jetzt war der Toaster am Netz, die Knete beiseite und sein Holzgriffmesser bis zum Schaft in der Maschine vergraben, und Jean-Pierre Colgan, der Favorit der diesjährigen Tour de France hatte weder die Zeit noch das Interesse, ein leichtes Glühen zu bemerken, das von einem kleinen Draht ausging, der von den Heizspiralen zu der Knetmasse am Boden des Toasters führte.
Er bemerkte das Glühen nicht. Er bemerkte das Zischen nicht. Er bemerkte den Funken nicht.
Was er bemerkte, war, dass urplötzlich und ohne Vorwarnung das Universum in eine irrsinnige Farbenpracht zerbarst, sich vor ihm öffnete und ihn wie eine Geliebte, die ihn willkommen hieß, aus der Schwerkraft der Realität löste und durch eine Tür dem Nirvana entgegenschleuderte, die, wie er in seinem letzten bewussten Augenblick fand, für ein derart bedeutendes Ereignis viel zu schmal war.
Will Ross hatte keine Ahnung, wie lange sein Telefon schon klingelte, so viel er mitbekommen hatte, konnten es gut zehn Minuten gewesen sein. Er hatte nach dem Hörer greifen wollen, aber er konnte seine Hand nicht finden. Er wusste, dass er sie mit ins Bett genommen hatte. Aber jetzt konnte er sie gerade nicht finden.
Nur deutsches Bier – echtes deutsches Bier – hatte diese Wirkung auf ihn. Schon immer. Deshalb liebte er Europa. Hier hatte man eine ganz andere Einstellung dazu, sich die Lichter auszuschießen, als in Amerika. Und jetzt, da er nicht mehr im Training stand, sprach nichts mehr dagegen, sich ab und an in der kleinen Kneipe, nur ein paar Häuser von seiner Wohnung in Avelgem entfernt, die Lichter auszuschießen.
Das Telefon klingelte immer noch.
Vielleicht sind es ja meine Eltern, dachte Ross. Sie hatten nie den Zeitunterschied begriffen und außerdem gingen sie ihm jetzt, da er keine Radrennen mehr fuhr, ständig damit auf die Nerven, er solle zurück in die Vereinigten Staaten kommen und einen richtigen Beruf ergreifen und überhaupt, Rad fahren sei ja ohnehin etwas für kleine Jungs und dabei verdiene man ja kein richtiges Geld und, und, und...
Das Telefon klingelte immer noch.
Ross war wieder eingeschlafen. Aber er hatte seine Hand wiedergefunden. Genau da, wo er sie gelassen hatte.
»Was? Was?«
»Dir auch guten Tag, Will. Wo zum Teufel hast du gesteckt? Ich versuche dich seit sechs Stunden zu erreichen.«
»Ich war indisponiert, Leonard. Ich habe nicht nur geschlafen, sondern mich auch mit den vielfältigen Engagements und Sponsoren-Angeboten beschäftigt, die du mir in den vergangenen sechs Monaten verschafft hast.«
»Tut mir Leid, Kumpel, aber irgendwie sind die großen Brauereien momentan nicht scharf auf einen abgetakelten Rennfahrer, der seit sechs Jahren nichts mehr gewonnen hat und bei der Tour de France ... wie oft? viermal? ... die Karenzzeit überschritten hat.«
»Fünfmal.«
»Fünfmal. Danke. Jedenfalls bekomme ich momentan den Werbechef von Budweiser nicht dazu, mit einem Vertrag für das Clydesdale-Rennen bei mir vorbeizukommen.«
»Tausend Dank, Leonard. Was ist denn mit der belgischen Seife – läuft da was?«
»Tut mir Leid, die haben sich für David Hasselhoff entschieden. Aber ich habe etwas für dich.«
Ross rieb sich das Gesicht, um die Falten glattzubügeln, die der Alkohol hineingezeichnet hatte.
»Was denn? Mittlerweile bin ich so weit, dass ich alles annehmen würde.«
»Wie wär’s mit ein bisschen Rad fahren?«
»Wie bitte?«
»Rad fahren, Will. Ich habe dich in einem Team untergebracht.« Bisher hatte er auf dem Bett herumgelümmelt. Jetzt schoss er auf und saß bolzengerade auf der Kante.
»Bist du wahnsinnig, Leonard? Ich kann nicht fahren. Ich bin am Ende. Fertig. Außer Form.