Tödliche Tour. Greg Moody
hielt für einen Augenblick inne, holte tief Luft und wog den Hass, den er in der letzten Saison auf die Straße entwickelt hatte, gegen das wachsende Minus auf seinem Bankkonto ab. So ungern er es sich eingestehen wollte, das Bankkonto siegte, auch wenn es bedeuten würde, das Leben in Belgien, das er liebgewonnen hatte, aufzugeben, um in den Vereinigten Staaten für eine Firmenmannschaft zu fahren.
»Okay. Wann und wo? Wann muss ich in den Staaten sein und für welches Team fahre ich?«
»Es ist keine amerikanische Mannschaft. Es ist eine europäische Mannschaft.«
»Waaaas? Motorola? Warum sollte sich Motorola für mich interessieren? Och hasst mich doch immer noch, weil ich letztes Jahr auf den Mannschaftswagen gekotzt habe.«
»Nein. Es ist nicht Motorola. Pass auf. Es hat einen Knick in der Schwerkraft gegeben. Das Raum-Zeit-Kontinuum ist abgerissen, mein kleiner untrainierter Kamerad. Dein lieber Freund Jean-Pierre Colgan ist jetzt dein lieber verstorbener Freund Jean-Pierre Colgan. Du, mein Bester, bist zum Dienst in der Sportgruppe Haven auserkoren worden und ich – ein echter Profi, wie ich bemerken möchte – habe die Trauer über Colgans vorzeitiges Ableben unterdrückt, um dir einen ziemlich guten Deal zu verschaffen. Mit 15 Prozent Kommission, wenn ich mich recht erinnere.«
»Zwölfeinhalb.«
»Wie auch immer. Du bist im Geschäft, Junge. Du bist versorgt. Du hast eine Saison Verlängerung.«
»Bist du verrückt? Leonard, ich konnte noch nie fahren, auch nicht, als ich gut war, ich habe nicht die Beine für die langen Strecken. Wie kommst nur darauf, dass ich ausgerechnet jetzt fahren kann? Bist du... ach, Scheiße.«
»Keine Panik, mein Freund. Ich glaube an dich, weil tief in dir, Willie, Stil, Kraft und das Herz eines Löwen stecken. Außerdem hast du einen rechtsgültigen Vertrag, weil ich von dir eine Vollmacht habe. Du musst übermorgen in Paris sein.«
Will schloss die Augen und versuchte, das alles abzuschütteln. Natürlich, das war alles nur ein langer, böser Traum und nur auf die übermäßige Einnahme fermentierter Hopfengetränke zurückzuführen. Aber es gab noch ein Frage, die beantwortet werden musste. Will brachte sie langsam, sehr langsam über die Lippen.
»Ich schicke dir die Details per Fax – hol sie dir morgen früh in dem Büro in deiner Straße ab. Sonst noch was? Sonst leg’ ich auf – das Gespräch geht auf meine Rechnung.«
»Warte, Leonard. Colgan. Was ist passiert?«
»So viel ich von Haven gehört und in den Agenturmeldungen gelesen habe, geht man davon aus, dass eine Gasleitung in seiner Wohnung hochgegangen ist – hat die ganze Ecke aus seinem Haus raus gerissen, auch einen Teil der Nachbarwohnungen. Ziemlich übel.« »Ging es wenigstens schnell? War es für ihn schnell vorbei?« »Glaub’ schon. Sie haben ihn in einem Wandschrank gefunden.« »Was?«
»Die Wucht der Explosion. Sie haben das, was von ihm übrig geblieben ist, in einem Schrank gefunden. Hat ihn quer durchs Zimmer geschleudert. Übel. Ich muss gehen. Details später. Ruf mich an, wenn das Fax da ist.«
»Leonard. Len. Bist du dir ganz sicher?«
»Meinst du seinetwegen oder deinetwegen?«
»Beides.«
»Bei ihm bin ich mir ganz sicher. Das größte Arschloch im Feld ist tot. So tot wie eine Makrele auf dem Sonntagsgeschirr meiner Mutter. Bei dir, Willie – ja, ich bin mir sicher. Du hast einen Vertrag. Du hast einen Job. Setz deinen Arsch in Bewegung und verdiene meine 15 Prozent.«
»Zwölfeinhalb.«
»Wie auch immer. Du hast heute noch eine Trainingsfahrt vor dir. Los geht’s.«
William Edward Ross hängte den Hörer ein und schaute auf die Uhr. 16 Uhr. Es war noch genügend Zeit für ein kurzes Training, wenn er jetzt losfahren würde; vielleicht schnelle 65 Kilometer, wenn er nicht außerhalb von Roubaix zusammenbräche und am Straßenrand verendete. Er schaute raus. Es war nass. Nein. Feuchter Schnee. Es sah kalt aus. Und ungemütlich.
Er rannte ins Bad und verbrachte die nächsten fünfundvierzig Minuten damit, alles auszukotzen, was er seit seinem zehnten Lebensjahr gegessen hatte.
Jean-Pierre Colgan war nie religös gewesen, aber das versuchte er jetzt gutzumachen.
»Himmlischer Vater, vergib mir alle meine Ausschweifungen und Sünden der Eitelkeit und des regelmäßigen Geschlechtsverkehrs und dass ich mein Mobiltelefon in jener Kurve in die Speichen Calabresis gesteckt habe, als gerade die Motorräder nicht in Sicht waren...«
Dieser Tunnel war gar nicht übel – er war warm und angenehm und schien so etwas Ähnliches wie Wände zu haben, obwohl man nichts berühren konnte. Die erste unangenehme Passage durch diese enge Tür zur Unendlichkeit hatte hierhin geführt und es war nicht schlecht. Der Tunnel ging so etwas wie einem hellen Licht entgegen und als er dem Licht näher kam, begann Colgan eine Figur auszumachen, die zunächst nur eine Form war, jetzt jedoch Konturen gewann: groß, schmal – und mit den muskulösesten Beinen, die er je gesehen hatte.
Jean-Pierre Colgan war zu Hause und Fausto Coppi war da, um ihn zu begrüßen.
»Friede sei mit dir, mein Bruder.«
»Monsieur Coppi... «
»Fausto... «
»Es ist mir eine große, ja eine grandiose Ehre... sind Sie nicht tot?«
»Doch, mein Freund, genau wie du. Ich bin hier, um dir den Weg zu zeigen. Und um dir dafür zu danken, dass du im Peloton mein Andenken gewahrt hast. Du hast mir Ruhm gebracht, indem du selbst Ruhm erworben hast.«
Es dauerte einen Augenblick, bis Colgan das alles verarbeitet hatte. Jean-Pierre Colgan hatte die Linie überschritten. Er war auf die andere Seite getreten. Wie dieser grauenhafte amerikanische Fahrer mit den scheußlichen Socken am Ende des Feldes immer sagte: »Du hast eingeschlagen, Babe.«
Er holte tief Luft – seltsam, er spürte nicht viel mehr als Ruhe und Zufriedenheit – und widmete seine Aufmerksamkeit wieder seinem stattlichen Gegenüber.
»Sie waren mein Idol«, sagte Jean-Pierre Colgan leise.
»Ich weiß, mein Freund. Deine anderen Idole sind auch hier. Sie freuen sich darauf, dich kennen zu lernen.«
»Bartali? Garin? Anquetil?«
»Nun, Bartali lebt noch, erstaunlicherweise, bei seinem Lebenswandel, aber Anquetil ist hier, ja.«
»Wann kann ich ihn sehen?
»Bald, aber... sei geduldig. Gib ihm Zeit.«
»Zeit ... warum ist er nicht hier, um mich in der Ruhmeshalle der Champions zu begrüßen?«
»Nun, Jean-Pierre«, Coppi hielt inne. »Um ehrlich zu sein, er hält dich für ein Weichei.«
In einem kleinen Haus in Avelgem, nahe der Grenze zwischen Belgien und Frankreich, unweit von Roubaix, zog William Edward Ross an einem nassen verschneiten Sonntag die rotgestreiften Socken an, für die er bekannt war, und bereitete sich auf eine zweistündige Fahrt durch die Hölle vor.
2
Willkommen in Sinnlos
Du bist zu spät. Vierundzwanzig Stunden zu spät.« Will Ross schaute von seinem Gepäck auf, das sich nun wie ein endloses Meer untereinander unverwandter Taschen um ihn herum ausbreitete. Hatte er das alles tatsächlich in den vergangenen eineinhalb Tagen kreuz und quer durch Frankreich geschleppt? Sein Rücken tat weh, seine Schultern waren wund gerieben, seine Stimmung war finster.
»Ja, ich bin zu spät. Ich habe einen Tag lang ganz Paris nach dir abgeklappert und nach einer Transportmöglichkeit gesucht.«
»Wir