Tödliche Tour. Greg Moody

Tödliche Tour - Greg Moody


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      »Du hast meinem Agenten die falsche Adresse gegeben, Carl. Und du hast ihm gesagt, dass mich jemand abholen würde.«

      »Er hat sie sich nur falsch aufgeschrieben, Champ.«

      »Leonard kennt Paris überhaupt nicht. Er kennt Senlis nicht. Er hätte nachgefragt, schon allein weil seine Provision davon abhängt. Irgendjemand – und ich gehe davon aus, dass du mit ihm gesprochen hast – hat ihm falsche Informationen gegeben. Und übrigens, hör bitte auf, mich ›Champ‹ zu nennen.«

      »Mach dir deshalb keine Sorgen – es ist unwahrscheinlich, dass du hier jemals wieder so genannt wirst, oder? Pass auf, für die nächsten vier Stunden ist ein Mannschaftstraining angesagt, der Start ist jetzt. Du hast 15 Minuten, um dich fertig zu machen. Hinten steht ein Rad für dich bereit mit einem Mannschaftstrikot. Zieh dich um und mach dich auf den Weg. Du bist jetzt in einer Profi-Mannschaft, Ross, und dazu in einer, die bis letzte Woche ernsthaft vorhatte, die Tour de France zu gewinnen. Das Projekt hatte mir gefallen und ich möchte auch mit Müll wie dir in der Mannschaft daran festhalten. Kapiert?«

      Ross schaute tief in Deeds’ harte, rotgeränderte Augen.

      »Kapiert, buana Carl.«

      »Fick dich ins Knie, Ross. Wir haben keine Kleiderhaken mehr übrig. Stapel dein Zeug hier drüben – du lebst dieses Jahr aus deiner Sporttasche. Willkommen an Bord. Los geht’s.«

      Carl Deeds, Sportlicher Leiter und Team-Manager bei Haven-Pharma, drehte sich auf dem Absatz um und stampfte davon. An der Ecke vor dem Ausgang aus der Umkleidekabine schlug er seine Faust in einen Spiegel, der sofort zerbarst. Seine Hand war blutig. Pech. Hat der eine Wut im Bauch, dachte Ross.

      Trotzdem konnte Will Deeds nicht wirklich böse sein. Schließlich hatte Deeds Jahr um Jahr mit mittelmäßigen Teams und mittelmäßigen Fahrern verbracht und jetzt, kurz vor seinem Durchbruch, dem Gewinn der Tour de France durch Jean-Pierre Colgan, waren alle seine Träume zerplatzt. Richard Bourgoin, sein neuer Mannschaftskapitän, war sicherlich ein Talent, aber der Champion, der Mann, der all seine Träume hätte verwirklichen können, war ersetzt worden; nicht durch einen anderen Champion sondern durch einen alternden mittelmäßigen Fahrer, der nicht einmal in der Blüte seines Könnens das Zeug zu einem Champion gehabt hatte.

      Warum zum Teufel war er hier?

      Es war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich mit dieser Frage aufzuhalten. Darüber konnte er noch auf dem Fahrrad nachdenken. Er warf seine Klamotten neben einen zusammengerollten, schimmeligen alten Teppich, zog sich rasch um und streifte seine Socken über. Rotgestreift. Die Socken waren ein hässliches Markenzeichen, aber sie stets zu tragen war seine Art des Aberglaubens, den alle Fahrer in irgendeiner Form pflegten. Er hatte sie schon immer getragen. Um das Glück zu erzwingen, das sich in Europa nie eingestellt hatte. Er blickte auf sein Leben, das auf einem Haufen in der Ecke lag.

      »Vielleicht wird es Zeit, sich neue Socken zu suchen.«

      Zehn Minuten später trat Will aus der Hintertür der Umkleidekabine auf den großen Hof vor dem verfallenen Velodrom außerhalb von Senlis, einer kleinen Stadt 50 Kilometer nördlich von Paris. Er war allein. Der kalte Wind schlug ihm gegen die nur mit einem T-Shirt bedeckte Brust und er zog sich rasch das Wintertrikot über. Haven: schwarz, rot und gelb. Wenigstens passte es zu seinen Socken. Er streifte sich eine Windjacke über und schlüpfte in seine Handschuhe. Das wird nicht reichen, dachte er. Er war in die Hölle zurückgekehrt. Deeds war einer jener Sportlichen Leiter, die die Ansicht vertraten, Kälte mache hart. Will war einer jener Fahrer, die die Meinung vertraten, Wärme mache froh. An einem Tag wie diesem sollte er bei Hilda sitzen, um die Ecke von seiner Wohnung in Avelgem, und lauthals irgendein Sportereignis kommentieren, das zufällig gerade über den kleinen schwarz-weißen Bildschirm in der Ecke flimmerte.

      Er schwang sein Bein über das Rad und merkte sofort, dass es ihm nicht passte. Ein unpassendes Rad würde in vier Stunden seine Weichteile zu Brei zerreiben. Es fehlte nicht viel, aber er musste unbedingt den Sattel verstellen, wenn er in den nächsten Tagen noch vorhatte, Fahrrad zu fahren.

      Er rollte aus dem Hofgelände heraus auf die Gasse, die zur Landstraße führte. Vielleicht konnte er dort einen Inbus-Schlüssel bekommen, die Mannschaft würde unten an der Straße auf ihn warten. Seine 15 Minuten waren fast vorbei.

      Er bog aus der Gasse auf die Straße, die am Velodrom entlangführte. Die Straße war leer.

      Eine schlanke Brünette in einer leichten Patagonia-Daunenjacke stand an einem Laternenpfahl und schaute auf, als er auf sie zurollte und vor ihr anhielt.

      »Ich hatte dich schon fast aufgegeben.«

      »Hey, ich bin auf die Minute pünktlich.«

      »Nun, ich enttäusche dich ungern, aber die Mannschaft ist vor einer Viertelstunde hier losgefahren. Deeds hat gesagt, du kannst sie einholen.«

      »Ja, klar. Sag mir nur, wo hier der Bus abfährt, uh... Frau... ?« »Crane. Cheryl Crane. Ich bin die Masseurin der Mannschaft. Und...«

      »Ein weiblicher Masseur – das ist etwas ... «

      »Ungewöhnlich, ich weiß. Und ich würde es vorziehen, keine ... «

      »... der üblichen Witze zu hören ... «

      »Genau. Solltest du dich nicht auf den Weg machen? Du bist schon ... 17 Minuten hinterher.«

      »Das bin ich gewohnt. Vor allem, wenn ich Anweisungen habe, 15 Minuten hinter den anderen zu starten. Ich brauch’ ’nen Inbus.« »Seh’ ich aus wie ein Werkzeugladen?«

      »Nein. Eher wie ein Heimwerkermarkt.«

      »Charmant. Und: nein, ich habe keinen Inbus. Die Mechaniker fahren hinter der Mannschaft her. Wenn du jetzt losfährst, holst du sie noch ein – kurz bevor sie wieder hier sind.«

      »Dein Glaube an mich... Cheryl? ... wärmt mir das Herz. Aber ernsthaft. Wo ist hier die Werkstatt oder der Verhau, wo die Mechaniker ihre Werkzeuge aufbewahren?«

      »Gleich hier drinnen – was brauchst du?«

      »Ich muss meine Sitzposition einstellen ... «

      »Okay.« Sie drehte sich um und ging in das Gebäude. Will rief ihr hinterher.

      »Einen Inbus für die Sattelstütze – oder einen ganzen Satz, wenn es einen gibt ...«

      Cheryl steckte ihren Kopf aus der Tür. Wut leuchtete aus ihrem Gesicht.

      »Hör zu, du Krücke. Du hast hier nicht viele Freunde, also verscheiß’ es dir nicht gleich von Anfang an mit mir. Ich weiß, was du brauchst. Ich hab’ mein ganzes Leben mit Fahrrädern zu tun gehabt und bin bis letztes Jahr selbst Rennen gefahren. Ich kenne die Routine und ich kenne die Maschine. Ich weiß, welchen Schlüssel du brauchst – diesen hier zum Beispiel.«

      Der schmale Metallstab glänzte in ihrer Hand. Will hob die Arme, um sein Gesicht zu schützen. Der Schlüssel traf ihn an der Schulter. Er hob ihn vom Rand des Gulliss auf, lockerte die Schraube, passte seine Sattelhöhe an und zog die Schraube wieder fest. Es fühlte sich fast richtig an. Nicht perfekt, aber gut genug, um ein neues Paar Hosen nicht durchzuscheuern und eine ganz neue Kultur von Entzündungen am Hintern zu züchten.

      Er stieg vom Rad ab, überprüfte, ob der Sattel gerade stand, zog ihn noch einmal fest und warf Cheryl den Schlüssel wieder zu. Sie fing ihn mit einer Hand, ohne sich vom Fleck zu bewegen. Eindrucksvoll, dachte Will.

      »Hast du noch einen Ersatzschlauch und ’ne Rahmenpumpe da drin?«, fragte Will. »Den Anschluss an die Materialwagen habe ich mittlerweile wohl verloren.«

      »Seit genau 22 Minuten. Es wird spannend, zu sehen wann du ankommst. Sekunde, lass mich schauen, was hier so rumliegt.«

      Sie verschwand wieder in dem Verhau und tauchte nur Momente später mit einem Schlauch, einer Pumpe, Klebeband und einem Stück Papier wieder auf.

      Will klebte die Pumpe an sein Oberrohr, schlang sich den Schlauch über Kreuz um die Schultern und nahm das Blatt, das Cheryl ihm hinhielt. Es war ein Streckenplan. Ein


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