Parasiten des 21. Jahrhunderts. Leopold Federmair

Parasiten des 21. Jahrhunderts - Leopold Federmair


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zu mehren, und die Armen, die die ganze Hand an sich reißen, sobald ihnen ein kleiner Finger gereicht wird. Im Normalfall spielt sich das ganze Geschehen als Austausch ab, die soziale Maschinerie schnurrt dahin, tagein, tagaus, die Dienste werden recht und schlecht bezahlt, so haben alle ihr Auskommen, ihren angestammten, überlieferten, schwer zu verlassenden Platz in der sozialen Hierarchie.

      Parasite ist zunächst nichts anderes als ein Sozialdrama, das man als Kritik an der zeitgenössischen Konsumgesellschaft und den immer noch wachsenden Ungleichheiten verstehen kann. Etwas mehr als hundert Jahre vor diesem Film wurde ein ganz anderes Werk über einen Parasiten geschrieben, eine viel seltsamere Erzählung; so seltsam, daß sie in den Kanon der phantastischen Literatur eingegangen ist, wo sie heute einen der Spitzenplätze einnimmt. Die Rede ist von Franz Kafkas Verwandlung. Die Familie, die wir da kennenlernen, ist irgendwo in der Mitte der Gesellschaft angesiedelt, nicht arm, aber auch nicht sonderlich reich. Das Parasitentum Gregor Samsas ist anderer Natur als das der Familie Kim, die sich nach und nach bei einer anderen, weniger zahlreichen, aber weitaus wohlhabenderen Familie einschleicht. Anders nicht nur deshalb, weil Gregor ja zur Familie gehört, sondern wegen seines zugleich naturhaften und imaginären Charakters, absurd und von einer anderen, nicht-logischen Konsequenz. Gregor findet sich eines Morgens, noch im Bett liegend, „zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt“. Von jetzt an ist er ein Schmarotzer, die Familie wird ihn aushalten, wird ihn ertragen, seine Schwester kümmert sich um ihn, doch zum Wohl der Familie kann er künftig nichts beitragen, er ist überflüssig, nein, schädlich, ein Familienschädling und damit ein Volksschädling von der Art, wie sie Hitler und seine Kameraden in den Winkeln der deutschen Gesellschaft aufspürten, um sie zusammenzutreiben und... Die Versuchung liegt nahe, Kafkas Erzählung als allegorische Vorwegnahme späterer Ausrottungsstrategien gegenüber den Juden zu lesen; gleichzeitig aber weiß man aus Kafkas Tagebüchern und Briefen, wie sehr er sich selbst am Rand der Gesellschaft sah und darunter litt, auf einem feinen Grat zu balancieren und zugleich in einem unterirdischen Bau zu hausen, dem Bau seiner Sprachkunst nämlich, und wie er sich doch keine andere Existenz vorstellen konnte und wollte als diese. Das, was er tat und tun mußte, gegen alle Ansprüche der Familie, der Gesellschaft, wie auch gegen die inneren Blockaden, von welchen die Dokumente ebenfalls Zeugnis ablegen, war das einzige, was er beizutragen hatte, der „Mehrwert“, den er aus sich zu ziehen verstand. Ein paradoxer, wertloser Mehrwert. „Legs auf den Nachttisch!“ (Der Vater mit verächtlichem Blick auf das erste Buch des Sohnes.) Die Texte als Schmutz, von dem sich die soziale Familie nicht reinigen kann – und heute auch nicht mehr reinigen will, weil sie erkannt hat, daß Kafkas Gesamtwerk etwas über sie sagt, das anders nicht gesagt werden kann, und eben dieses Werk sie in gewisser Weise erst konstituiert. „Wir müssen es“ – das Ding, den Nicht-Menschen, das Unwesen – „loszuwerden suchen“, hieß es damals. Heute wird es in Schulen und Hochschulen gehegt und gehätschelt, von Weltautoren fortgeschrieben: Samsa in love.

      Von diesen Figuren, diesen realen, real leidenden, von einer Meute verfolgten oder in sich zurückgezogenen, selbstzerstörerischen Außenseitern, von den Juden, Sinti und Roma, den Homosexuellen, den Hexen, den Henkern, den Minderwertigen, den Arbeitsscheuen, den Überqualifizierten, den Geistesgestörten, den Arbeitslosen des elektronischen Zeitalters, den Aussätzigen und Unberührbaren finde ich in einem umfangreichen Buch, das diesen Titel trägt, Der Parasit, kaum eine Spur. Stattdessen Spaßmacher und Wortedrechsler, die sich bei den Reichen zum Bankett einladen. Die bei deren Gelagen mitnaschen und nichts dafür geben, buchstäblich nichts, sie drehen den Wohlhabenden, die vielleicht darüber lachen, eine lange Nase. Fabeln, Legenden, allerlei Geschichtchen, selbsterfundene und überlieferte, oft aus der Antike, von der Zeit, als die Philosophen noch etwas zu sagen hatten. Michel Serres hat dieses vorsätzlich disparate und verspielte, mehr oder weniger referenzlose, „unrealistische“ Buch in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts geschrieben. Man sollte es als Roman mit all den Flausen lesen, die sich Romane erlauben dürfen, solche wie Italo Calvinos Wenn ein Reisender in einer Winternacht, wo der Leser ebenfalls vom Hundertsten ins Tausendste geschubst wird. Und trotzdem vermisse ich die Figuren, die Leidenden, vermisse die Ernsthaftigkeit. Das Parasitendasein ist kein Honigschlecken!

      Zwanzig Jahre, nachdem er sein Patchwork-Buch fertiggestellt hatte, schrieb Serres für eine Neuausgabe ein Vorwort, das mir in wenigen Sätzen luzider scheint als die Hunderten Seiten, die folgen, so daß es mir als Anstoß und Einführung in mein eigenes Parasitenwerk geeignet scheint: Ich zweige es ab wie damals der halbwüchsige villero, den ich in einer Vorstadt von Buenos Aires beobachtete, als er mit einer unscheinbaren Siphonpumpe Benzin aus dem Tank eines allzu stattlichen Autos absaugte. Die Entwicklung eines Kindes, seine Erziehung, seine Bildung und Ausbildung, schreibt Serres, laufen darauf hinaus, aus uns einen „Akteur des Austauschs zu machen, indem sie uns nach und nach von unserem ursprünglich parasitären Verhalten abbringen“. Auf diese Art entsteht Gesellschaft, werden sozial verträgliche, mehr oder minder gemeinschaftsdienliche Individuen erzeugt. Zunächst aber sind Kleinkinder – und schon die Föten – Parasiten, vollkommen abhängig von ihrer unmittelbaren Umgebung, die sie auf das selbstverständlichste aussaugen. Das Parasitentum ist die Vorform des Sozialen, das im Lauf der Zeit zurückgedrängt wird, und bleibt gewissermaßen dessen Voraussetzung, später auch seine Gegenform. Daran erinnern euch die erwachsenen Parasiten, die ihre Position selbst gewählt haben oder nicht anders können. Die Bettler, die Verrückten, die Alkoholiker, die Hikikomori, die sich wie Gregor Samsa für den Rest ihres Lebens im Zimmer verschanzen, die Ausländer, die Schwulen – nein, die nicht mehr, die haben sich zur angesehenen Untergruppe gemausert, dürfen sogar heiraten und Kinder aufziehen. Aber vielleicht die Pädophilen? Oder müssen wir diese zwanghaften Störenfriede des Gesellschaftskörpers entfernen, wenn wir unsere Kinder vor Bedrohungen schützen wollen (aber schützen wir sie im allgemeinen nicht zuviel)? Und natürlich die Künstler, die Schriftsteller, die Taugenichtse, die nicht heimkehren wollen, und die Philosophen – nein, die auch nicht mehr, denn wenn sie nicht professoral werden und ein entsprechendes, wohlverdientes Gehalt beziehen (denn auch sie geben und nehmen), dann sind sie Medienstars, Kommentatoren, Konsultanten von Entscheidungsträgern, oder zumindest Workshopveranstalter, Betreiber eines Philosophencafés. Alle gehören dazu. Alle!

      Alle? Wenn alle dazugehören, geht die Zugehörigkeit flöten, sie verliert den Zusammenhalt, der im Innersten negativ ist, eine Leerstelle, eine Abwesenheit, ein blinder Fleck ohne Sinn. „Ich hab mein’ Sach auf nichts gestellt“: Goethe, der Arrivierte, der Angekommene, wußte davon. Goethe, der alte Säufer. Die Parasiten, die nicht Zugehörigen, sind schon da, bevor menschliche Kollektive gebildet werden, und sie werden diese überleben. „Indem sie ihn negieren, bereiten sie den Austausch vor“, und so helfen sie, „das soziale und kulturelle Gebäude zu errichten“ (noch einmal Michel Serres). Ein parasitärer Künstler ist einer, der unfähig oder unwillens ist, erwachsen zu werden. Ein Erwachsener, der ewig Kind bleibt. Ein Kind, das klarer sieht und unumwundener spricht als die Erwachsenen. Ein Stotterer, der eine neue Sprache hervorbringt. Jemand, der in der Muttersprache eine Fremdsprache erzeugt. Der Mißverständnisse nicht aus-, sondern einräumt. Der kommuniziert, indem er sich einigelt. Der den Sinn aufs Spiel setzt, indem er mit den Zeichen spielt, aus denen, wenn er Glück hat, etwas anderes sprießt, ein vorsintflutlicher Nachsinn vielleicht.

      Der gewissenhafte, aber auch ein wenig anarchistische Richard Rorty, einstmals bestallter Professor am Trinity College und an der Stanford University, hat das ähnlich gesehen. Er schrieb und dachte und sprach recht normal, aber Diskurse, die er „nichtnormal“ nannte, hatten es ihm angetan. Diese nichtnormalen Rede- und Schreibformen fußen zwar auf den konventionellen, überlieferten, kurz: normalen Diskursen, doch sie saugen sie aus, verletzen das Copyright, verstoßen gegen Denkschemata und Vorstellbarkeitsgrenzen, zehren davon wie der ungebetene Gast beim Bankett und bezahlen am Ende dann doch, obwohl es die längste Zeit nicht danach aussieht, in einer ganz anderen Währung, mit Späßen, mit guter Laune, mit Unverständlichkeiten, mit heißer Luft und unerträglichen Furzen – nein, im Ernst, sie bezahlen mit Kunstwerken, deren Wert man, wie bei Kafka, van Gogh und Konsorten, erst im nachhinein, Jahrzehnte später, erkennt. „Er kreuzt und diagonalisiert den Austausch“ (noch einmal Serres, den ich hier ein wenig plündere). Der Parasit handelt nicht, sondern ändert flugs die Währung, die Sprache, die Ebene, auf der wir uns befinden. Er knüpft transversale Beziehungen, überrascht mit Anknüpfungspunkten, trennt das


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