Parasiten des 21. Jahrhunderts. Leopold Federmair

Parasiten des 21. Jahrhunderts - Leopold Federmair


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„Was du ererbt hast von den Vätern, erwirb es, um es zu besitzen“ – solche Sprüche findet man gesammelt, kopiert und „gepastet“ auf zahllosen Sites im Internet, aber was sie bedeuten … Wissensbereiche werden unter heutigen Bedingungen nicht erworben, sondern angeklickt (und meistens sofort wieder vergessen), Gegenstände werden nicht durchdrungen, Probleme und Zusammenhänge nicht erkannt, sondern nur gestreift, Bildung eignet man sich nicht an, man braucht sie im Grunde genommen nicht, und wenn doch, dann genügt es, wenn sie in den Speichern des Allzweckgeräts konserviert ist. Dementsprechend sind die beliebtesten, d. h. zeitgemäßesten Genres der Epoche des Kulturüberflusses, auch Postmoderne genannt, die Anthologie, die digitale Enzyklopädie, das Florilegium und die Zitatensammlung.4 Das jederzeit und jedermann zugängliche Internet, wie es sich im 21. Jahrhundert ausgeprägt hat, ist letzten Endes nichts anderes als die Hyperstruktur dieser Auswahlgenres, einschließlich Wikipedia, wo der User neben höchst ernsthaften, mitunter taxfrei wissenschaftlichen Artikeln so viel Information über sämtliche Kleinstädte, Dörfer und Stadtviertel, über viertklassige Fußball- und Schauspieler oder auch Pornosternchen finden kann, daß er als User gar nicht anders kann, als sich in diesem Labyrinth zu verlieren (auch „surfen“ genannt). Das Problem ist weniger, daß uns inmitten solcher Überfülle die Bildung abhandenkommt, als daß wir uns selbst nicht mehr zu Persönlichkeiten bilden, die selbständig auswählen, verwerfen, bewerten und sich das als wertvoll Erachtete aneignen: Die Notwendigkeit und schließlich die Möglichkeit dazu bleibt im digital vernetzten Lebensraum auf der Strecke. An die Stelle des Subjekts des Wissens, des Zweifelns und des Erkennens ist der Wissensmanager getreten. „Möglich ist diese Vorstellung nur“, schreibt Konrad Paul Liessmann, „weil die Wissensgesellschaft die Beziehung des Wissens zur Wahrheit gekappt hat“.5 Da sie sämtliche Daten sofort haben können, verlernen die User der digitalen Welt auch das Warten, die Geduld, das Reifen, die Introspektion. Gleichzeitig unterliegen Erholung und Unterhaltung einer Transformation: Luststeigerung, oft auch noch gratis, ohne vorhergehende Anstrengung führt leicht zur Sucht, zum unkontrollierbaren Konsum (der dem kommerziellen Ideal des Spätkapitalismus entspricht). Das Internet und die Geräte, die uns damit verbinden, machen an sich süchtig, nicht erst durch bestimmte Inhalte (Spiele, Pornographie, Wetten …), die wir darin finden. Der Süchtige ist die Verkörperung des Subjekttypus, der sich endlos gehen läßt. Er will und muß nicht denken, sich zur Verantwortung rufen, Entscheidungen treffen. Sucht ist bequem – kann aber Probleme im wirklichen Leben nach sich ziehen. Reale Nebenwirkungen sozusagen.

      Durch die soziotechnischen Systeme werden uns immer mehr Bürden abgenommen, das Leben wird – oder wirkt, auf den ersten Blick – ungeheuer leicht. Unsere Spätmoderne ist, um einen Begriff Zygmunt Baumans zu gebrauchen, eine leichte Moderne, die das schwere Gepäck des Industriezeitalters und seiner Moral abgeworfen zu haben scheint (das relativierende Verb füge ich Baumans Erläuterungen hinzu). Wissen heißt heute nicht mehr, sich etwas angeeignet und in seinem Gehirn aufbewahrt zu haben; es bedeutet, eifrig im Internet herumzuklicken, geleitet von einer Suchmaschine, in den meisten Fällen Google, wobei der Suchende immer wieder auf dieselben Pages, dieselben Sites, also Orte, stößt, die eine Unzahl von Orten und Verbindungen dort- und dahin („Links“) anbieten. Was durch die mehr oder weniger intelligenten Maschinen und Systeme ausgelagert wird, sind nicht mehr nur beschwerliche körperliche Tätigkeiten wie Rasenmähen, Tagebau oder Geschirrspülen (schon seit prädigitalen Zeiten), es betrifft mehr und mehr den intellektuellen, emotionalen und sinnlich-perzeptiven Bereich: das Erinnern, das Denken, das Erstellen(-Lassen) von Korrelationen anstelle des Aufspürens von Zusammenhängen, die Orientierung, die Intuition, ja, sogar das Verlieben, das laut Harari von Algorithmen viel besser besorgt wird als durch fehlbare menschliche Subjekte, die nur auf ihre Gefühle und Eingebungen zurückgreifen können und daher oft unvernünftig agieren. Gleichzeitig verliert sich die Forderung nach Verantwortlichkeit, und spiegelbildlich dazu das Verantwortungsbewußtsein der Subjekte. Letzteres gilt nicht nur für anonyme System-User, oft als „Poster“ unter Pseudonym auftretend, die in irgendeinem „sozialen“ Medium immer wieder mal zu ihrem Vergnügen Haßbotschaften oder Drohungen absetzen, es gilt auch für die Konstrukteure dieser digitalen Systeme und wiegt bei ihnen viel schwerer, bei den Software-Entwicklern und den von ihnen geschaffenen intelligent-maschinellen Entitäten, zumal wenn sie zu raschem Selbstlernen befähigt sind: Wer ist für deren ach so reibungsloses, aber mitunter dystopisches Funktionieren verantwortlich? Wer kontrolliert es? Wer kann es rechtzeitig stoppen? „Es besteht die Gefahr, daß am Ende niemand mehr zur Verantwortung gezogen werden kann“, faßt Catrin Misselhorn in ihrem Buch über „Grundfragen der Maschinenethik“ zusammen, nachdem sie Beispiele wie den Einsatz von Drohnen in der Terrorbekämpfung, der Kreditvergabe von digitalisierten Banken und die Preisgestaltung von Tickets bei Lufthansa angeführt hat. Die geschilderten Verhältnisse könnten „dazu führen, daß die Menschen sich weniger verantwortlich fühlen und die Bedeutung ihrer Handlungen nicht mehr wirklich verstehen“.6 Algorithmen verstehen sie besser. Aber wirklich den Menschen gemäß?

      Ein Aspekt und eine Folge der Bequemlichkeit ist die immer umfassendere Herrschaft von kulturellen Mainstreams. Technisch und ideologisch bestünde die Möglichkeit zunehmender Diversifizierung, tatsächlich ist aber die gegenläufige Tendenz wesentlich stärker. Hinter der sogenannten Personalisierung, auch Singularisierung genannt, verbirgt sich das Gegenteil dessen, was der Begriff aussagt, nämlich Stereotypisierung und Rhetorisierung; das Gegenteil jener Singularitäten, die nach Gilles Deleuze durch menschliche Kreativität hervorgebracht werden.7 Wer hat, dem wird gegeben; was oft angeklickt wird, wird noch öfter angeklickt; nach und nach bleichen die Besonderheiten aus. Dabei klickt man zunächst oft nur, um zu sehen, was da so interessant sein soll: eine Art von ironischem Klicken, augenzwinkerndes Mitmachen, das unmerklich zu distanzlosem Baden im Mainstream werden kann. Technologische Basis des Konventionalismus und Konservativismus der ach so innovationsfreudigen digitalen Welt8 sind ökonomische Quasi-Monopole wie Google und Facebook, es sind die durch Algorithmen erzeugten Spiegelkabinette und Echoräume von sogenannten Feeds, von Empfehlungen des Gleichen oder Ähnlichen, die gedankenlos als Befehle aufgenommen werden. Harari begeistert sich für die Möglichkeit der digitalen Produktion von – vom Konsumenten aus gesehen – „personalisierter Kunst“. Der Kunde ist König, die Produzenten und Vertreiber geben ihm, was er wünscht und braucht, oder zu brauchen glaubt (natürlich beeinflussen sie ihn zugleich durch systematische, im Internet durchaus lückenlose Werbung). Facebook-Algorithmen wissen, wie der Einzelne, d. h. der „User“, der Digitalkonsument, auf Musikstücke reagiert, bzw. andersrum gesagt, sie wissen, in welcher Lage er welche Musik braucht. Um auf solche Weise über Kunst zu sprechen, ist ein etwas beschränkter Begriff davon Voraussetzung: „Oft wird gesagt, daß die Menschen deshalb für Kunst empfänglich sind, weil sie sich selbst darin wiederfinden.“ Das heißt, vor allem ihre Gefühle, und auf diese wirke die Kunst ein, und ein Algorithmus, der genügend neurologisches Datenmaterial über meine psychischen Reaktionen zur Verfügung hat, könne das viel erfolgreicher als ein Komponist, der für ein allgemeines, a priori nicht-personalisiertes Publikum komponiere. „Wenn die Schönheit in den Ohren der Zuhörer liegt, und wenn der Kunde immer recht hat“, dann werden biometrische Algorithmen die „beste Kunst in der Geschichte“ produzieren. Meint Harari.

      Natürlich ist das Zukunftsmusik. Es mag Versuche in diese Richtung geben, aber die meisten Leute – Kunden – hören immer noch am liebsten, was gerade en vogue ist, und ein solcher Geschmack ist nicht singulär, sondern stereotyp. Harari konzediert dies, fügt aber sogleich hinzu, daß Algorithmen auch beim Herstellen von „global hits“ besser sein werden. Demnach wären menschliche Komponisten bereits überflüssig … Dabei fällt mir auf, daß der israelische Historiker nicht nur mit einem etwas simplen Kunstbegriff operiert, sondern selbst einen Musik- und überhaupt Kunstgeschmack entwickelt haben dürfte, der über globale Pop-Hits und Klassikschnulzen nicht hinausreicht. Die Künstler, die er an dieser Stelle zitiert, sind Britney Spears und Tschaikowsky (nichts gegen Tschaikowsky!). Die werden von den Kreativrechnern sicher bald übertroffen.

      Es scheint ein Zug der gegenwärtigen Epoche zu sein, daß sich auch kluge und besonnene Menschen immer wieder in einen Taumel der Vorwegnahme rasanter technologischer Neuerungen hineinziehen oder -fallen lassen. Unsere Zeit ist paradoxermaßen beides: zukunftsängstlich und zukunftssüchtig. Was als nüchterne Überlegung beginnt, verwandelt


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