Parasiten des 21. Jahrhunderts. Leopold Federmair

Parasiten des 21. Jahrhunderts - Leopold Federmair


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daß die Mutation nicht eine Elite, sondern die Masse betrifft, während es eher die Eliten sind, die am Alt-Menschlichen festhalten. Glaubt man Yuval Harari, so haben die Menschenrechte ausgedient. Im Jahrhundert der Totalitarismen seien sie vielleicht nützlich gewesen, um Gewaltherrschaft zu bekämpfen, doch heute gehe die Berufung auf angebliche Menschenrechte an den Realitäten vorbei. Biotechnologie und Künstliche Intelligenz, schreibt Harari, würden den herkömmlichen Sinn des Menschlichen umdeuten („…now seek to change the very meaning of humanity“). Freiheit habe sich durch den Fortschritt der betreffenden Wissenschaften – Mathematik und Statistik – als Chimäre entpuppt: Wozu sie noch verteidigen?

      Andere versuchen genau dies, eine „Verteidigung des Menschen“, und bestehen auf den fundamentalen, unauflöslichen Unterschieden zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz, wobei trotz allem – machine learning usw. – erstere letzterer zugrundeliege und ihr Sinn und Ziel verleihe.14 Der herkömmlichen Humanität bleibt nichts anderes übrig, als mit der digitalisierten Gesellschaft, den digital humanities, zu koexistieren. Wenn sie abdankt und der exponentiell steigenden Digitalisierung einfach nur freien Lauf läßt, könnte dies fatale Folgen zeitigen. Ein hierzu bloß komplementärer Gedanke: Wäre es nicht sinnvoll, in der Gesellschaft nichtdigitale Zonen und Zeiträume einzurichten und zu verteidigen? Handyfreie Schulen, Cafés, Seminare? Um 1990, als Handys langsam zum Massengerät und Massenkonsumartikel wurden, waren diese in manchen Wiener Kaffeehäusern untersagt. Als einmal trotzdem jemand telephonierte, meinte der Ober empört: „Wir sind doch kein Großraumbüro!“ Wenige Jahre später erschien die Welt als ein einziges Großraumbüro; oder genauer, als globales Gebiet, das sich restlos in Büro- und Privat-Blabla aufteilte. Noch ein paar Jahre später ist das stimmliche Sprechen überflüssig geworden, Büro und Blabla werden „getextet“, die Finger sind flink geworden, die Kunden/User/Gäste starren ins Gesicht ihres Geräts und wischen darin herum. In den Kaffeehäusern, soweit sie musikalische Beschallung ablehnen, herrscht nun eine andere Art von Schweigen.

      Freiheit wird Notwendigkeit

      Eine der wiederkehrenden Obsessionen der älteren abendländischen Philosophie war es festzulegen, welche besonderen Eigenschaften den Menschen vor den Tieren auszeichneten. Der Mensch als zoon politikon, ein ganz spezielles Tier. Die Denker hatten ein starkes Bedürfnis, den Begriff des Menschen abzugrenzen und seine höhere Stellung zu behaupten. Der Mensch war sprachbegabt (obwohl es auch bei vielen Tierarten Kommunikation gab), er konnte denken (obwohl manchen Tieren Intelligenz nicht abzusprechen ist), er formte immer komplexere Gesellschaften, war also ein „soziales Tier“ (obwohl genaugenommen jede Rudel- und Schwarmbildung eine Art von Gesellschaft ist), in seinen ersten Lebensjahren unselbständig (aber auch Tiere haben Lernphasen) … Negative Charakteristika wie zum Beispiel, daß sich die Menschen untereinander bekriegen, während in der Tierwelt weithin eine unproblematische Solidarität innerhalb jeder Spezies zu beobachten ist und die Kämpfe sich nach außen richten, fielen dabei unter den Tisch. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts schwindet dieses Bedürfnis, die eigene Identität durch Abgrenzung von Tieren zu bestätigen, während gleichzeitig das Bedürfnis wächst zu erkennen, was wir den Maschinen voraushaben, worin sie uns überlegen sind und wie wir mit beidem, Über- und Unterlegenheit, zurechtkommen können.

      Um die Menschen von intelligenten Maschinen zu unterscheiden, verwendet der bereits mehrfach zitierte Harari gern den Begriff „Bewußtsein“. Dieses allein zeichne den menschlichen Geist aus. Selbstbewußtsein ist dabei ein weiteres Spezifikum, das zur Abgrenzung dienen kann. Allerdings gibt Harari auch zu: „We don’t really understand the mind.“ Jeder von uns gebraucht unentwegt seinen Geist, jeder setzt sein Bewußtsein ein und bildet es aus und verliert es am Lebensende wieder. Ein gewaltiger Denker hat versucht, Geist und Bewußtsein in einem dicken Buch – zweibis dreimal so dick wie das ebenfalls nicht dünne von Harari über den Homo deus, dem Leser jedoch viel schwerer zugänglich – zu ergründen, zu durchleuchten und systematisch zu beschreiben, und dennoch bleibt auch diese Kritik der reinen Vernunft mit ihrem abstrakten Kategoriengerüst, das zu einem erheblichen Teil triviale Vorgänge in vorsichtiger Begriffssprache abtastet und sichert, d. h. formalisiert, unbefriedigend, sobald wir introspektiv überlegen, was eigentlich in uns abläuft, wenn wir denken. Sicher nicht dasselbe wie in einem Computer, oder? Jeder hat Zugang zu seiner inneren Welt (ein Computer nicht?), durch Introspektion, die dem Selbstbewußtsein eine Vielzahl von Bahnen schafft. Wir glauben daher intuitiv zu wissen, was uns auszeichnet, und zwar als Individuen ebenso wie als Exemplare unserer Gattung.15 Und wir ziehen ausgehend von dieser Selbsterfahrung Schlüsse in Bezug auf Maschinenwesen und Tiere, in die wir freilich nicht hineinsehen können und die uns ihr Innenleben, sollten sie eines besitzen, nicht mitteilen. So daß wir zwangsläufig auf Beobachtung und Spekulation angewiesen sind. Tiere und Computer sind Black Boxes. Wenn sie uns etwas mitteilen, dann das, was wir in sie hineingelegt haben: Ihre Botschaften sind anthropomorph.

      Harari neigt dazu, nichtmenschlichen Wesen eigene, geistige Fähigkeiten zuzuschreiben, wenn auch oft nur hypothetisch, im Modus der Vermutung. Er tut es zugleich auf ironische Weise, wobei der Grad seiner Ironie schwer bestimmbar bleibt, dem Urteil der Leser überlassen, von denen manche die Ironie gar nicht wahrnehmen werden. Vielleicht ist es gar nicht nötig, (Selbst-)Bewußtsein zu haben, um intelligente Leistungen hervorzubringen, die jene der Menschen immer weiter und bald auch immer schneller übertreffen. Computer, Rechenmaschinen, Algorithmen, körperlose, in gewisser Weise rein „geistige“ Programme, Gespenster sozusagen, könnten in nicht allzu ferner Zukunft die Dinge dieser Welt und auch die Menschen und ihre Angelegenheiten (z. B. wirtschaftlicher, medizinischer, moralischer Natur) besser verwalten, als die Menschen dies im Hinblick auf Tiere, Maschinen und sich selbst zu tun imstande sind. Jene intelligenten Maschinen könnten selbsttätig ein Innenleben entwickeln, das nicht zwangsläufig anthropomorph sein oder bleiben muß, und immer mehr, immer weiter lernen, damit aber eigene, unvorhergesehene Identitäten ausbilden, sich selbst auf eine Weise perfektionierend, wie es Menschen versagt ist. Es klingt nach den features eines Science-Fiction-Romans, aber die Maschinenwesen könnten die Macht ergreifen und eines schönen Tages beschließen, daß die Menschen nicht nur überflüssig sind, sondern stören; daß sie für ihre eigene „Gesellschaft“, ihre vernetzten Strukturen eher schädlich als nützlich sind und man sie deshalb am besten entsorgt, wie man es mit Parasiten eben so macht. Aber vielleicht sind die intelligenten Maschinen ja, im Unterschied zu den Menschen in diversen Epochen ihrer Geschichte, zu einem sanfteren Schluß gekommen: Jene Menschen, die Urväter der ersten Computergenerationen, sind gar nicht so schädlich, wie es einst den Anschein hatte; man kann ihnen problemlos eine Existenz in sorgloser Muße ermöglichen, solange sie sich nicht in die Belange der eigentlichen, der rationalen und rationellen Gesellschaft einmischen. Die Menscheit wird gewissermaßen ornamental, sie dient zur nostalgischen Verschönerung.

      Vielleicht ist es also nichts als vergebliche, d. h. nostalgische und folglich überflüssige Liebesmüh, wenn ich versuche, eine kurze, ganz und gar provisorische Liste von Aspekten und Dynamiken, von Freuden und Leiden des Bewußtseins zu erstellen, und zwar mithilfe der methodenlosen Methode – alias Heuristik – des Brainstormings, des ungeregelten, frei assoziierenden Stöberns in meinem Gedächtnis, das sich durch eine inzwischen beträchtliche Erfahrung des Denkens und Beobachtens im Lauf der Jahre ausgebildet hat, ein wenig wie ein Tuchverkäufer in alten Zeiten, der seine Stoffe ausrollt und umlegt, faltet und entfaltet und glattstreift und gegen das Licht hält, und auch wieder einrollt (wie es die aus den Bergdörfern in die Stadt gekommenen indianischen Verkäuferinnen in Mexiko heute noch praktizieren). Fenster auf und durchlüften! Das Abgelagerte anheben, wenden, fliegen lassen! Vieles verwerfen, beiseitelassen, nicht einmal ignorieren.

      Diesen Gedanken der menschheitlichen Überflüssigkeit, der Antiquiertheit des Menschen, findet man schon bei Günther Anders in dessen Nachkriegsphilosophie. Er selbst hat ihn nicht nur aus der kollektiven Erfahrung der Verwüstungen durch die Atombomben abgeleitet, sondern als Folge der immer umfassenderen Technisierung der Welt gesehen. Angesichts der für Menschen unerreichbaren Perfektion der Maschinen, wie man sie heute zum Beispiel an Schachcomputern, aber im Grunde genommen an jeder Rechenoperation sieht, muß der Mensch etwas wie „prometheische Scham“ empfinden, also das Gegenteil der klassischen und aufklärerischen Hybris.16 Unter diesen –


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