Parasiten des 21. Jahrhunderts. Leopold Federmair

Parasiten des 21. Jahrhunderts - Leopold Federmair


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      II

      IRONIE OFF!

      Anthropologische Mutation

      1972 schrieb oder, genauer gesagt, kopierte der Dichter Rolf Dieter Brinkmann folgende, zunächst in einem Brief nach Deutschland geäußerten Sätze in sein römisches Collagebuch: „Es wird nicht mehr lange dauern, bis hier das 20. Jahrhundert mit allen seinen Schrecken auch voll und ganz eingetreten ist. / Was ist der Schrecken des 20. Jahrhunderts?: Es ist die starke Automatisierung des Lebendigen (…), ich habe es immer bezeichnend empfunden in Köln an der Ecke Ehrenstraße: ‚Der sprechende Automat‘ sobald man das Geld in den Zigarettenkasten geworfen hatte und automatisch kam heraus/: ‚Vielen Dank!‘“1

      Was würde der Dichter heute sagen, wo in einem fort aus allen Richtungen lebendige und künstliche, in jedem Fall digital gespeicherte und abgerufene Stimmen an unser Ohr dringen, die uns bitten oder bedanken, warnen oder locken, Floskeln und Zahlen formulieren, uns auf den nicht angelegten Sicherheitsgurt aufmerksam machen, auf einen abbiegenden oder rückwärts fahrenden Lastwagen, einen Artikel im Supermarkt, wo man an der automatischen Kassa auch Tierstimmen hören kann? Würde er sich in Alexa und Siri verlieben? Hätte er sich, wie die meisten Zeitgenossen heute, an all diese Automatiken und Künstlichkeiten längst gewöhnt? An das Wasserrauschen auf den Toiletten? An das künstliche oder lebendige – läßt sich nicht entscheiden – Frauenstimmchen im Aufzug, das uns mitteilt, jetzt gehe es nach oben oder nach unten?

      Wollte man im Jahr 1972 in einem Lokal Musik hören, schlenderte man cool zur Jukebox (wie in Brinkmanns Erzählung Wurlitzer), die nach zwei, drei Minuten in Schweigen fiel, wenn man sie nicht weiter fütterte. Die Dauerbeschallung durch seichte Pop- und Kaufhausmusik war noch nicht Realität, Kopfhörer, Ohrstöpsel, Bluetooth noch nicht gebräuchlich. Ist denn das alles so schrecklich? Was sind die wahren Gräuel der Gegenwart? Was würde Brinkmann zu den allgegenwärtigen, immer unauffälligeren Überwachungskameras sagen? Zum Verlust der Privatsphäre, zur sanften Kontrolle bis hinein ins Wohn- und Schlafzimmer? Zur ständigen Mitteilung von visuellen Daten, ermöglicht durch digitale Photographie und Handys, die zur zweiten Natur geworden sind und uns an das sogenannte Netz anschließen, in dem mehr und mehr auch die intelligenten Dinge zusammengeschlossen sind? Wobei die Mitteilungen, die Informationen oft nur von Maschinen gespeichert, aber kaum von Menschen angesehen, noch weniger besprochen oder diskutiert, im Glücksfall oder bei geschickter Eigenwerbung „gelikt“ werden oder sich „viral“, das heißt im Selbstlauf, verbreiten: Kommunikationslosigkeit. Fast jeder liefert sich freiwillig aus, verschenkt seine Daten, regt sich hernach über NSA und Big Data auf, verschleudert weiterhin seine Daten, gebraucht tagein, tagaus die Geräte, die sich jederzeit gegen ihn wenden können wie Panzer eines Landes gegen die eigene Bevölkerung.

      Dabei denken wir noch gar nicht an die Probleme der Arbeitswelt, an ihr tendenzielles Verschwinden und das seltsame Phänomen, daß wir trotz der Steigerung der Produktivität immer mehr Arbeit am Hals haben, wenn wir Arbeit haben, und uns immer gestreßter fühlen auf dem Weg zum Burn-out. „Man stelle sich vor, mehr als 90 Prozent aller Jobs würden verschwinden; ersatzlos gestrichen, weil Maschinen sie übernehmen. Ein grauenvoller Gedanke: Was wird dann aus uns Menschen, wovon werden wir leben, womit füllen wir unsere Zeit?“, fragt Christoph Kucklick, derzeit (2021) Leiter der Henri-Nannen-Schule in Hamburg.2 Wenn wir versuchsweise mal ein paar Antworten geben: Vielleicht leben wir von dem, was die Maschinen erwirtschaften? Der Reichtum verschwindet ja nicht mit der Arbeit. Aber verschwindet sie überhaupt? Werden nicht ständig neue Arbeiten erfunden, konstruiert, bereitgestellt, damit wir nicht arbeitslos werden? Unnötige Tätigkeiten, doch immerhin sind wir beschäftigt. Der Mensch als Beiwerk der Maschinen, die er wartet, beaufsichtigt, verbessert. Bis sie sich eines nicht fernen Tages selbst warten, beaufsichtigen, verbessern werden? Diese Zukunft hat ebenfalls schon begonnen, Maschinen können immer besser, immer schneller lernen. Trial and error, alles durchprobieren, dazu sind sie unermüdlich – und rasend schnell. Frustrationstoleranz 100 Prozent. Hundertmal verlieren, einmal gewinnen. Werden die Menschen dann Gedichte schreiben wie Rolf Dieter Brinkmann? Werden sie lernen, studieren, neugierig sein, einfach so, ohne bestimmtes Ziel, Bildung als Selbstzweck? Oder sich tagein, tagaus über Politiker, über „Eliten“ ereifern und empören, die vielleicht auch gar nicht mehr nötig sind? Werden sie die heile Welt schrecklich finden? Oder den halben Tag Sport treiben? Meditieren? Shoppen? Oder sich betrinken, betäuben mit Drogen, Internet, Fußball, Shopping, Surfen, Pornos?

      Zögerliche Antworten münden in neue Fragen. Es ist vor allem eine bequeme, praktische Welt, und zwar schon heute, für die meisten Menschen in den entwickelten Ländern. Ich erinnere mich an den Beschwerdespruch meiner Mutter zu einer Zeit, die noch nicht ganz so bequem war, als die Menschen weniger motorisiert und weniger mobil waren, sich aber noch viel mehr bewegten, einen Spruch, den sie ab und zu einem ihrer Kinder an den Kopf warf: „Recht faul und bequem!“ Heute sehe ich die jungen Leute mit dem Handy vor der Nase wie der Esel mit der Karotte und denke, oft gegen meinen Willen: Recht faul und bequem! Das Praktische, Annehmliche, Naheliegende, leicht zu Habende, leicht Erreichbare, leicht zu Verstehende ist in unseren heutigen Gesellschaften zum Inbegriff des Wertvollen geworden, Bequemlichkeit schlägt jeden anderen Wert, soweit noch Werte in Umlauf sind. Und warum auch nicht, was spricht dagegen, worüber regst du dich auf? Das Allzweckgerät Smartphone genügt im Verbund mit dem Hypersupermarkt Amazon, der eines Tages vollautomatisiert sein wird (3-D-Drucker, Drohnen etc.), um uns ein ewiges Leben im Schlaraffenland zu gewähren.

      Zu bequem sind wir nicht bloß, um unseren Arsch zu bewegen, sondern zunächst und vor allem, um Entscheidungen zu treffen. Algorithmen treffen sie für uns, dein Personalcomputer3 kennt dich, er berechnet und prognostiziert dich, du bist seine Person, sein Ehepartner, er sagt dir, was du kaufen, welche Musik du hören, welchen Film du sehen wirst. Meistens ist er mit dir per Du, was angemessen ist, weil er dich besser kennt und dir näher ist als fast alle Menschen. Die hundertprozentigen digital natives der jüngeren Generationen wollen gar keine Entscheidungen treffen, sie verzichten gern auf ihre Freiheit, weil dieser Verzicht ihre Bequemlichkeit vermehrt, auch wenn sie verbal-ideologisch womöglich nach wie vor für Freiheit eintreten: Sie wollen sich doch von niemandem etwas sagen lassen! (Außer von Spotify, TikTok, GPS, Partneragentur, Suchmaschine, Rechtschreibkorrektor, alles natürlich im Internet, ihrem eigentlichen Lebensraum.) Auch in vorgeblich freien Gesellschaften, schreibt Yuval Noah Harari („allegedly free societies“), werden wir mehr und mehr den Algorithmen vertrauen und im selben Maß unsere Fähigkeit einbüßen, Entscheidungen auf eigene Faust, im eigenen Namen zu treffen. Auf den Widerspruch zwischen der Haltung des Bedauerns und futuristischer Begeisterung sowie auf die Ironie, die diesen Widerspruch bedient, werde ich noch zurückkommen. Ich fürchte, daß ich ihm (und ihr, der Ironie) selbst nicht entgehen kann. Unter solchen Bedingungen, die ich als automatisiert bezeichnen würde, insofern die technische Automatisierung auf das Verhalten der Personen abfärbt – wir passen uns den allwissenden Geräten an –, optieren wir in der Regel für das Leichtere, Einfachere, schnell zu Habende. Durch Klicks und Pop-ups, durch das ständige und mühelose Aufspringen von Fenstern, ist alles in unserer Reichweite, die Abstände werden viel radikaler reduziert als beim Fernsehen, weil unsere Individualität, das „Persönliche“, das freilich schon durch die Geräte und ihre Algorithmen façonniert ist, und unsere Mobilität einberechnet werden (dennoch sehe ich die Internetpraktiken immer auch als Fortsetzung der Fernsehkultur). Wir brauchen keine Anstrengung und wollen sie auch nicht, wir ziehen das Einfache dem Komplexen vor, das Bild dem Text, den wir allenfalls überfliegen, das Triviale dem Elaborierten, die Verschwörungstheorie der Analyse, den Slogan dem Zweifel, das Poppige der Klassik, das Flüchtige dem Traditionsbeladenen. Roberto Simanowski bezeichnet dieses Prinzip, das Facebook vielleicht am besten verkörpert, als verbrecherisch („Facebooks Verbrechen …“). Daß er sich am Ende – ironisch, versteht sich – zum digitalen Smalltalk und den Banalitäten à la TikTok „bekehrt“, verweist auf den Widerspruch, von dem auch das Schreiben Hararis zehrt.

      Ein Problem, das sich aus der Bequemlichkeit ergibt, besteht darin, daß die digitalisierten, bis zu einem gewissen Grad automatisierten Subjekte selbst dann, wenn sie lernen, sich bilden, etwas wissen wollen, die Gegenstände und Themen nicht mehr durchdringen, weil sie ohnehin sämtliche Daten – und anders als


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