Haupt- und Nebenwirkungen. Gabriele Goettle
Zugriff auf genaue Behandlungs- und Diagnoseprofile ihrer Versicherten, Disease-Management-Programme – angeblich zugunsten wissenschaftlicher Evidenz – sorgten dafür, dass über chronisch Kranke besondere Dokumentationen zur Verfügung gestellt werden. Die Kassen konnten nun Morbiditäts- und Kosten-Nutzen-Berechnungen aufstellen und ökonomisch in den Behandlungsverlauf eingreifen.
Frau Hartwig erhält nun wieder das Wort: »Ja, wirklich, die schlimmsten Sachen hat Ulla Schmidt gemacht! Ich habe mal nachrecherchiert, wer denn eigentlich so die Fäden in ihrem Ministerium in der Hand hatte, und habe festgestellt, im Gesundheitsministerium werden die Entscheidungen in der mittleren Ministerialebene abgehandelt. Unter Ulla Schmidt bin ich auf einen Herrn Knieps gestoßen, und dieser Herr ist Rechtsanwalt und Krankenversicherungsexperte, kam von der AOK. Und ich bin auf einen Herrn Vater gestoßen vom Krankenhauskonzern Rhön-Klinikum AG. Nur zur Orientierung: Dieser börsennotierte Klinikkonzern vermehrt seine Gewinne brutal durch Einsparungen auf Kosten von Patienten, Personal und Material. Beispielsweise wurden die Sterbezimmer abgeschafft und die Kühlräume für die Verstorbenen. Die Toten bleiben bis zur Abholung durchs Bestattungsunternehmen im Krankenzimmer liegen. Das war ein absolutes Tabu zuvor.
Indem die Politik sich solcher Berater bedient, werden die Böcke gezielt zu Gärtnern gemacht. Diese Fachleute waren praktisch die, die alles vorbereitet haben. Ulla Schmidt war übrigens auch die Erste, die dort drüben war 2006, um sich wohlwollend das amerikanische Gesundheitssystem anzuschauen. Im Bank of America Building in San Francisco hat sie ins Luxusrestaurant im 52. Stock wichtige Herren zum Abendessen geladen damals – man kann das alles nachlesen. Ihr Gast war der Chef von Kaiser Permanente, der größten Versicherung der USA, mit circa 9 Millionen Versicherten und Umsätzen im mehrstelligen Milliardenbereich. Diese Versicherung ist zugleich ein Gesundheitskonzern, Betreiber von Kliniken, Ärzteorganisationen, Apothekenketten und eine IT-Plattform zur Vernetzung von Patientendaten. Die Versicherten dürfen, außer in Notfällen, nur hauseigene Ärzte, Kliniken und Apotheken in Anspruch nehmen.
Diese Kaiser Permanente ist, nebenbei bemerkt, 1972 entstanden, nachdem das Unternehmen Kaiser den Präsidenten Nixon dazu überredet hatte, das Gesundheitssystem zu privatisieren. Wer sich ein Bild machen möchte vom amerikanischen Gesundheitssystem, der findet im Doku-Film ›Sicko‹ von Michael Moore die niederschmetternde Beschreibung der amerikanischen Realität. Ulla Schmidt jedenfalls war begeistert und hat diese Anregungen mit nach Hause genommen, wo sie nach und nach umgesetzt wurden und werden. Und die ganze Geschichte der e-Card – sie geht auch auf das Konto von Ulla Schmidt – ist sehr aufschlussreich. Nämlich auch was die Rolle der Ärzte angeht. Bei den letzten Ärztetagen – so viel auch zum Thema Demokratie – hat die Ärzteschaft einstimmig die Einführung der e-Card abgelehnt. Ich war fest davon überzeugt, die wollen diese elektronische Gesundheitskarte nicht.
Aber die Gesundheitspolitik, die Kassen und die Kassenärztliche Vereinigung (KV), die kennen die Masse der Ärzte ganz genau! Ich habe jetzt durch einen Zufall erfahren: Im Jahr 2011 haben die Ärzte ein Angebot gekriegt, wenn sie innerhalb eines bestimmten Zeitraums sich das Lesegerät für die e-Card kaufen, dann bekommen sie 730 Euro von der KV erstattet. Das war zugleich ungefähr der Preis des Geräts. Ärzte, die ich gefragt habe, mussten nicht mal was draufzahlen oder nur eine geringe Summe. Ich habe dann bei den Landes-KVen und bei der Bundes-KV nachgefragt und es kam raus, über 90 Prozent der Ärzte haben inzwischen dieses Lesegerät. So viel zur Glaubwürdigkeit der Ärzte und ihrer Behauptung, dass sie sich wehren. So, und was sie gefügig gemacht hat, ist wieder mal das Geld. Und STOpP! Diese Lesegeräte, die man ihnen quasi geschenkt hat, sind bezahlt mit unseren Beitragsgeldern. Wir Patienten wollen aber die e-Card gar nicht, also sind sie uns schon wieder in den Rücken gefallen.
Ich habe damals wirklich gedacht, wir Patienten wollen das nicht und die Ärzte wollen das nicht. Wenn wir also alle an einem Strang ziehen und uns gemeinsam verweigern, dann können die ihre e-Card einstampfen! Ich habe nicht damit gerechnet, dass die Ärzte sich für 730 Euro kaufen lassen! Und das geht ja noch weiter, wenn wir, die wir uns der e-Card verweigern – was Tausende von Leuten ja machen –, mal zum Arzt müssen, dann will der von uns eine Unterschrift. Und wenn wir diese Unterschrift zum Datentransfer nicht geben, dann schreiben sie uns eine Privatrechnung nach Gebührenordnung, und wir müssen die Behandlung selbst zahlen. Weil, wer keine e-Card hat, angeblich nicht abgerechnet werden kann. Wir kriegen das dann auch von der Kasse nicht erstattet. Das ist die Sanktion der Kassen, mit der sie den Druck, den die Politik ihnen macht, an die Patienten weitergeben.«
Auf meine Frage, was denn hinter diesem offensichtlichen Widerspruch eigentlich steckt, dass einerseits der Kassenpatient in die Direktabrechnung getrieben werden soll, aber andererseits die elektronische Gesundheitskarte zum Abrechnen und Speichern der Daten brachial durchgesetzt wird, sagt Frau Hartwig (nachdenklich): »Ja, das stimmt … da haben Sie recht. Wenn wir immer mehr zu Selbstzahlern werden, dann macht die Karte keinen Sinn. Mit ihr sollen ja die Sachleistungen abgerechnet werden. Aber vielleicht gibt’s da noch einen ganz anderen Sinn? Es ist doch so, dass da Daten drauf sind und raufkommen sollen, bis hin zur Möglichkeit, ganze Diagnosen und Erkrankungen zu speichern, die Behandlungen, die Medikamente, die Krankenhausaufenthalte, die Organspendebereitschaft, bis hin zu besonders sensiblen Daten wie psychische Erkrankungen, Alkohol- oder Drogenmissbrauch, sexuelle Störungen und so fort. Eine ganze elektronische Akte. Und das von 70 Millionen Kassenpatienten. Ich denke, bei der Karte geht’s einfach nur um diesen großen, zentralen Computer, wo alle Daten gespeichert werden. Was für ein Datenschatz! Der ist unbezahlbar. Da geht’s um die ganze Gesundheitswirtschaft, die daran Interesse hat, um die Versicherungswirtschaft, die den Zugang zu diesen Daten hat – weil irgendwann unterschreiben wir, wenn der Chip in der Karte aktiviert wird, dass wir dem Datentransfer zustimmen.
Wenn ich mir das so überlege, dann komme ich zu dem Schluss, diese Gesundheitskarte hat nix zu tun mit unserer Gesundheit. Ihr Sinn und Zweck ist, uns und unsere Krankheiten als Markt zu erfassen. Das ist ein bisschen so wie mit diesen vielen Kundenkarten, im Supermarkt und überall, mit denen sie den Leuten Rabatte aufschwatzen, dafür aber das Kaufverhalten genau studieren und auswerten. Was für eine Geschäftsidee ist diese e-Card!!! Und was für Geschäftsideen sich aus unseren Daten ableiten lassen, unvorstellbar. Sie ist ein superwertvolles Instrument zur Marktanalyse! Für die Gesundheitswirtschaft und die Marketingstrategien der Medizinindustrie. Und wir Patienten liefern alle unseren relevanten Daten freiwillig und kostenlos! Halten sie sogar immer auf dem neuesten Stand. So ist es gedacht. Ja, besser geht es doch gar nicht!
Und zum Schluss erzähle ich Ihnen noch eine Geschichte, die klingt wie eine Parabel über den ganzen Wahnsinn des Gesundheitssystems und unserer Bürokraten am Schreibtisch. Aber das ist die Realität. Passen Sie auf! Es gibt hier in Bayern eine Frau, die hat leider drei Kinder mit einem Gendefekt, sie sind alle drei behindert und inkontinent. Inzwischen sind es drei junge Kerle von 17 bis 21 Jahren. Ab 1. August 2008 gab’s wieder mal eine neue Anweisung der Krankenkassen, die auf das Wettbewerbsstärkungsgesetz zurückgeht. Es traf diesmal die Inkontinenz-Patienten. Apotheken und Sanitätshäuser durften ab sofort an Kassenpatienten auf Rezept keine Windeln mehr ausgeben. Die Kassen machten Ausschreibungen und der billigste Windelanbieter bekam den Zuschlag. Die Mutter erfährt im Sanitätshaus, dass sie ihr Rezept für die Windeln in Zukunft direkt zu einem Hersteller von ›aufsaugenden Inkontinenzartikeln‹, und zwar nach Berlin schicken muss. Das Sanitätshaus übrigens hat mich auf diesen Fall aufmerksam gemacht, und ich habe mit der Frau Kontakt aufgenommen.
Die Firma war nur per Post, weder telefonisch noch per E-Mail zu erreichen. Und ich habe für die Frau mit der Kasse telefoniert und wenigstens erreicht, dass sie so lange Windeln kriegt, bis die Lieferung aus Berlin kommt. Nach drei Wochen erst kam die an, genau abgezählt für einen Monat. Die Kasse hat also mit der Firma diesen Vertrag gemacht und die Anzahl der Windeln, den Stuhlgang und die Blasenentleerung des Patienten berechnet? Also wann wer Urin lassen muss und Stuhlgang hat und wie viel, das bestimmen nun die Kasse und der Windelhersteller??!! Aber damit nicht genug, die Frau rief mich weinend an und fragte, ob ich mir die Bescherung mal anschauen möchte. Ich fuhr hin mit meinem Mann. Die Bürokraten hatten vergessen zu berechnen, was drei inkontinente junge Erwachsene in vier Wochen an Windeln brauchen. Dass dafür eine Spedition eine ganze Palette voll anliefern muss. Die Palette hatte sie einfach auf dem Bürgersteig vor dem Mietshaus abgestellt. ›Lieferung bis Bordsteinkante‹. Vor den Augen