Haupt- und Nebenwirkungen. Gabriele Goettle

Haupt- und Nebenwirkungen - Gabriele Goettle


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der Pharmaindustrie. Und es gab sogar echte Fortbildungspunkte.

      Sehen Sie, es geht doch!! Wir haben, um das alles organisieren zu können, auch einen Verein gegründet: CMI, Certified Medical Independence (zertifizierte medizinische Unabhängigkeit), bei der Ärztekammer mussten wir ja unseren Antrag stellen, und das haben die problemlos akzeptiert. Alle Teilnehmer des Seminars bekamen von uns ein Zertifikat am Ende. Das können sie sich in die Praxis reinhängen und damit darauf hinweisen, ich bin ein unabhängiger Arzt oder Ärztin. Daran können auch die Patienten sehen, dass ihr Arzt sich mit dem Thema ernsthaft auseinandersetzt. Man könnte natürlich weiter gehen und sagen: Wir gucken mal und stellen ein weiteres Zertifikat aus, nämlich für die Ärzte, die die Arzneiverordnung der Arzneimittelkommission zur Grundlage nehmen für ihre Therapie. Denn viele Ärzte gucken nur, was ihnen ihr Computerprogramm vorschlägt, das ihnen gesponsert wurde von Hoechst, ratiopharm, Bayer oder Roche.

      Wir wissen, wir haben einen schweren Weg vor uns, denn die Problematik ist vielschichtig. Viele Ärzte unterschätzen sie, viele nutzen das Angebot der Industrie. Mehr und mehr sind allerdings auch schon kritischer eingestellt als früher. Aber manches bemerkt man auch kaum, ich denke, es ist wie bei einem Initiationsritual. Schon wenn sie im Studium ihre ersten Praktika auf Station machen, dann sehen sie überall, wohin sie auch kommen, die Rote Liste stehen. Das ist für Studierende sozusagen die Bibel der Medikamente. Heute gibt’s das auch fürs Smartphone und für den Hausarzt zum Einbinden in die Praxissoftware. Die Präparate sind u.a. nach Indikations- und Wirkstoffgruppen geordnet und gelten als unverzichtbar für die Verordnungstätigkeit des Arztes. Dass es aber ein von der Pharmaindustrie gesponsertes Kompendium ist, das erzählt den Studenten keiner. Alle sind dankbar für dieses nützliche Hilfsmittel. Die Studenten werden im Studium damit groß, dass auf jedem Kugelschreiber, jedem Block, jedem Kalender und jeder Computermaus ein Firmenname steht. Das ist für sie total normal. Sie wachsen da rein, bekommen dann schon auch mal eine Einladung zu einer Veranstaltung in die USA, wo sie was präsentieren, und dann macht man ein Projekt zusammen. Super! Total sympathisch, der Vertreter. Es gibt kaum noch Fortbildung, die nicht bezahlt wird von der Industrie. Und wenn sie Studierende fragen, selbst die Abschlusspartys werden gesponsert, z.B. von großen Versicherungsunternehmen. Das ist alles total normal, warum soll man es hinterfragen?!

      Es gab ja mal das Projekt ›Positivliste‹, darüber haben wir beim Wochenendseminar auch gesprochen, im Zusammenhang mit der Roten Liste. Diese Positivliste für Arzneimittel sollte Medikamente enthalten, die von nachweislich hohem therapeutischen Nutzen sind, kostengünstig, und von den gesetzlichen Krankenkassen getragen werden. Das Projekt ist dann aber damals in den 90er Jahren – zumindest nach Aussage von Prof. Ludwig von der Arzneimittelkommission – durch die rot-grüne Regierung abgeschmettert worden. Es ist, glaube ich, insgesamt drei Mal gescheitert im Lauf der Zeit.« (Die meisten EU-Mitgliedsländer, wie Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Griechenland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Österreich, Portugal u. Schweden, verfügen schon lange über eine Positivliste. Anm. G.G.) »In Deutschland sind etwa 20.000 verschreibungspflichtige Medikamente auf dem Markt, viele davon sind überflüssig. Wir brauchen einfach eine Positivliste, die festlegt, welche Arzneimittel wirklich nützlich sind und für eine gute medizinische Versorgung ausreichen. Ich persönlich glaube, das alles ist politisch so gewollt. Die Politik hätte ja z.B. die Möglichkeit, uns unabhängige Wissenschaftler zu finanzieren, Experten, auf die wir uns verlassen können. Die an nichts mitgewirkt haben, ihre kritische Unabhängigkeit sich erhalten konnten. Man hat mal Hochschulprofessoren deshalb verbeamtet, damit sie loyal sind und unabhängige Wissenschaft vorantreiben. Heute ist es so, dass die Universitäten wegen Unterfinanzierung zur ›Drittmitteleinwerbung‹ gezwungen werden und von privaten Geldgebern abhängig sind.

      Die Drittmitteleinwerbung ist ja letztlich das, wonach Sie heutzutage beurteilt werden als Hochschullehrer. Also ich beobachte das mit starkem Unbehagen. Dass z.B. die Uni Köln Verträge mit Bayer abschließt, die nicht transparent sind, ist inakzeptabel. Das Verwaltungsgericht Köln hat im Dezember 2012 entschieden, dass der Vertrag über die Forschungskooperation zwischen der Bayer Pharma AG und der Universität Köln geheim bleiben darf. Man muss wissen: Zwischen Bayer und der Uni Köln – die ein Zentrum für klinische Studien hat – existiert angeblich die umfangreichste Zusammenarbeit, die je eine Hochschule eingegangen ist. Auch an der Charité in Berlin gibt’s seit 2010 Forschungsverträge mit Sanofi-Aventis. Und warum? Weil sie jahrelang zugrunde gespart wurde! Solche Verflechtungen führen automatisch zu Interessenkonflikten. Sie verhindern die Freiheit von Forschung und Lehre. Die Studenten wissen nicht mehr, ob der Hochschullehrer ihnen in der Vorlesung schon Werbung reingedrückt hat, weil er vielleicht grade zu dem Wirkstoff forscht. Wir müssen sicherstellen, dass die Studenten eine unabhängige Ausbildung bekommen und dass die Universitäten genügend Geld bekommen und ihrer Aufgabe gerecht werden können. Es muss eine der Aufgaben der öffentlichen Hand sein, die Unabhängigkeit von Medizin und Wissenschaft finanziell

      zu fördern. Die Politik versagt in diesem ganzen Bereich vollkommen. Grade wenn es um Gesundheit geht, muss man sich zweimal Gedanken darüber machen. Auch darüber, wie wir das eigentlich finanzieren wollen und wie halten wir die Leute gesund?!

      Wie tief das alles unbemerkt eindringt, das merken wir an unseren Studenten. Wir machen uns manchmal den Spaß und fragen: Was ist das für ein Medikament, von dem ihr zuletzt gehört habt? Meistens wissen sie dann nur den Handelsnamen. Es ist oft sogar üblich, dass bei Ausbildungsveranstaltungen in der Charité nicht der Wirkstoffname, sondern der Handelsname genannt wird. Was ja nicht unbedingt sein soll! Oder ich frage zum Beispiel: Eure herzkranke Tante möchte eine Auskunft über ein Präparat, ihr seid ja im dritten Semester, und sie will wissen, ob das, was sie nimmt, gut und richtig ist. Was macht ihr jetzt? Als Erstes kommt … nein, nicht Rote Liste, es kommt Wikipedia oder googeln! Das machen nicht nur die Studenten so. Aber sind die Einträge da frei vom Einfluss der Pharmaindustrie? Und ich sage, schaut euch mal die ersten zehn Webseiten genauer an, wieso steht diese Webseite an dritter Stelle? Wer finanziert die Seite, kann man das überhaupt erkennen und herausfinden? So in etwa kann man das mit den Studenten durchdiskutieren. Und was dann noch … unter den Top Ten ist, ich sag’s mal so, ist die Bravo für Omas, die Apothekenrundschau.

      Dass es Alternativen gibt, ohne Pharmawerbung, das muss man eben erst gesagt bekommen. Wir sind die einzige Veranstaltung in Deutschland, glaube ich, die die Studierenden im Unterricht darüber aufklärt, dass z.B. eine Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft existiert, dass sie eine Zeitschrift Arzneiverordnung in der Praxis herausgibt und dass man auch ein Behandlungskompendium bestellen kann, mit eigenen Informationen zu Wirkstoffen. Und dass es in Deutschland drei selbständige pharmakritische Zeitschriften für evidenzbasierte Medizin gibt: Arzneimittel-Telegramm, Arzneimittelbrief und den Pharmabrief der BUKO-Pharmakampagne. Deren Gemeinschaftsprojekt ist übrigens die Patientenzeitschrift Gute Pillen – Schlechte Pillen. Es stehen also zuverlässige, unabhängige Informationsquellen zur Verfügung. Es gibt viele Initiativen und sehr gute internationale Vernetzungen mit unabhängigen Organisationen. Wir müssen daran arbeiten, dass es in diesem Sinn weitergeht, und schon bei den Studierenden die Widerstandskraft stärken!«

      AUF GEDEIH UND VERDERB

       Eine Kritikerin des Gesundheitswesens erzählt

      RENATE HARTWIG, Schriftstellerin, Publizistin, Kritikerin des Gesundheitssystems. Nach Beendigung der Schule wurde sie Sozialarbeiterin, arbeitete in Bewährungshilfe, Jugendarbeit, Drogenhilfe. Seit 1985 Publizistin und Autorin. Anfang der 90er Jahre kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Scientology. Ab 1992 Referentin in Schulen, Wirtschaftsverbänden, Unternehmen, Industrie, Banken und Behörden. Fünf Jahre Dozentin im Bundeswirtschaftsministerium (Bereich Unternehmenssicherheit). Ab 2002 u.a. Kinderkreativprojekt »Kinder malen für Kinder«, ein Mutmach- und Sozialprojekt für Kinder. Seit April 2007 intensive Recherchen zum Gesundheitssystem und zu den Folgen des Umbaus; zu Privatisierung und Gesundheitsindustrie. Impulsgeberin für die Bürgerinitiative »Patient informiert sich«. Sie organisierte 2008 und 2009 zwei Protestveranstaltungen im Münchner Olympiastadion. 2009 Gründung des Vereins »Bürgerschulterschluss«. Verfasserin mehrerer Sachbücher (davon zwei Bestseller, »Ich klage an« und »Zeitbombe in der Wirtschaft«, 1994 bis 2002 sechs Sachbücher und zwei Jugendromane).


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