Die Rosa-Hellblau-Falle. Almut Schnerring
1MATHE IST KEIN BAUCHGEFÜHL
Warum Klischees so beharrlich sind
Luca, unsere Jüngste, sitzt über ihren Mathehausaufgaben und kritzelt schlampig über die Kästchen auf dem Arbeitsblatt. Acht sollen blau werden, fünf bekommen noch etwas Rot ab, da wirft sie ihre Buntstifte hin: »Dreizehn! Das ist doch voll baby!« Arbeitsblätter mit roten und blauen Kästchen begleiten sie durchs erste Schuljahr, und wir begleiten eine genervte Erstklässlerin durch ihre ersten Matheerfahrungen. Anfangs hatte sich Luca mit einer Begeisterung in die Welt der Zahlen gestürzt, die uns Eltern und ihre älteren Geschwister fast überforderte. Kein Spaziergang, kein Mittagessen, kein Einschlafen ohne neue Aufgaben, plus und minus, mehrteilig und gemischt; wer gerade in Reichweite war, von dem wollte sie neues Rechenfutter. Als Hausaufgaben bekam sie weiterhin Blätter mit Kästchen zum Ausmalen und mit Äpfeln und Birnen zum Einkreisen, alles im Zahlenraum bis 20. Zu Hause fing sie inzwischen an, mit Kay das kleine Einmaleins zu lernen. Für sie ein Riesenspaß, für Kay, den Drittklässler, für den das regulärer Unterrichtsstoff war, eher frustrierend. Deshalb wollten wir uns beim Elternsprechtag mit der Lehrerin darüber austauschen in der Hoffnung, dass sie Luca mit neuen Herausforderungen den Spaß an der Mathematik bewahren und ihr die Langeweile nehmen würde. Leider klärte sie uns stattdessen über ihre Erfahrungen mit Hochbegabten auf, und Luca, das sei sicher, ist ja nicht hochbegabt. Gut, das war zwar nicht unser Anliegen, aber offenbar waren wir durch unsere leise Kritik an den Kästchen direkt in die Kategorie ›überambitionierte Eltern‹ gerutscht, sodass sie meinte, uns erst einmal den Wind aus den Segeln nehmen zu müssen. Außerdem, gab sie uns noch mit auf den Weg, müssten Kinder in einer heterogenen Klasse lernen, dass sich nicht alles immer nach ihnen richtet. Warten zu können sei auch eine Tugend.
Ja, natürlich, man könnte das als Luxusproblem überambitionierter Eltern abtun: Mensch, seid doch zufrieden! Ist doch prima, dass sie in Mathe keine Probleme hat, ist ja nicht selbstverständlich … für ein Mädchen – oder wie? Wahrscheinlich sah die Lehrerin in uns Exemplare der aktuell kritisierten »Helikoptereltern«. »Zu viel Kontrolle« steht derzeit nämlich ganz oben auf der Liste der elterlichen Verfehlungen. Unlängst haben wir unsere Kinder zu Tyrannen erzogen, weil wir keine Grenzen setzten, jetzt droht die Überbehütung. Im vorliegenden Fall wäre die entsprechende Empfehlung also: abhaken, laufen lassen. Langweilt sie sich eben in Mathe, sie wird bestimmt bald etwas anderes finden, das sie ausfüllt. Deutsch oder Englisch vielleicht? Fachbereiche also, in denen sie vielleicht mehr Zuspruch bekommt? Weil Mädchen doch so gerne lesen und Sprachen überhaupt …? Wir waren jedenfalls überrascht, dass in Zeiten, in denen sich alle Welt mehr weibliche Begeisterung für die naturwissenschaftlichen Fächer wünscht, für Mathematik und Informatik, keine positivere Rückmeldung kam. Stattdessen lautete die Lösung der Lehrerin: Luca solle sich eben schneller durchs Mathebuch arbeiten mit der zweifelhaften Belohnung, im zweiten Band weitermachen zu können, sobald sie fertig wäre. Jetzt, ein Jahr später, findet Luca Mathe so blöd wie ihre Schulfreundinnen auch. Ihre Begeisterung ist erstickt im hundert Seiten dicken Mathebuch und in vielen Kommentaren von Großeltern und Eltern von Freund*innen: »Das kannst du schon rechnen? So ein kleines Mädchen, das ist aber toll!« Oder: »Interessant, dass sie sich so für Zahlen interessiert, ist ja sonst nicht so ’n Mädchending.« Im Einzelnen ist nichts davon schlimm und schon gar nicht böse gemeint, in der Summe aber hat es seine Wirkung nicht verfehlt.
Mit Kays Klassenlehrerin hatten wir ein ähnliches Gespräch, allerdings ging da die Initiative von ihr aus. Sie hätte manchmal den Eindruck, er sei vielleicht unterfordert in der Schule, wie wir das denn sehen würden. Und obwohl wir uns darüber noch gar keine Gedanken gemacht hatten und auch keinen Handlungsbedarf sahen, versprach sie, in Zukunft genauer darauf zu achten, dass er im Unterricht und in den Hausaufgaben genügend Herausforderungen findet. Zwei verschiedene Grundschullehrerinnen, zwei gegensätzliche Erlebnisse – es mag sein, dass das Thema Geschlecht nur zufällig dazukam. Für uns lag allerdings der Gedanke nahe, dass diese Neigung vieler Lehrer*innen und Eltern eine Rolle spielte, Jungen ganz allgemein für intelligenter zu halten, insbesondere in Mathematik1. Viel lieber hätten wir unser persönliches kleines Luxusproblem damit, aber unsere Tochter ist kein Einzelfall. Die Erwartungshaltung geht eben nicht davon aus, dass sich Mädchen für Mathematik und Physik interessieren, allgemeiner Konsens ist noch immer das Gegenteil. Und diese gesellschaftliche Übereinkunft hat direkte Auswirkungen auf das Selbstbild unserer Kinder. Sie führt dazu, dass Mädchen insgesamt ihre Matheleistungen geringer einschätzen als Jungen, selbst wenn sie gleich gute oder sogar bessere Noten in der Schule haben. Ein Satz wie »Das kann ich sowieso nicht!« kommt bei Mädchen viel früher, und das Blatt mit einer kniffligen Matheaufgabe wird oft schon zerknüllt, noch bevor eine wirklich zu rechnen begonnen hat. Und da wir das irgendwie ja auch erwarten, wird es allzu schnell entschuldigt – liegt ihr eben nicht. Jungen dagegen lernen schon bald, dass man mit einem selbstverständlichen Grundoptimismus weit kommen kann: »Passt schon!« ist die Haltung, mit der sich ein Matheaufgabenblatt leichter und schneller bearbeiten lässt. Die positive Selbsteinschätzung im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich nimmt bei Jungen mit zunehmendem Alter immer weiter zu, während die der Mädchen abnimmt2. Und auch die Pisa-Studie von 2013 ergab erneut: »Selbst da, wo Jungen und Mädchen gleiche Ergebnisse haben, sind Mädchen der Mathematik gegenüber negativer eingestellt. Ihr Vertrauen in die eigenen mathematischen Fähigkeiten ist geringer.«3 Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung also: »Jungs sind gut in Mathe. Und weil ich ein Junge bin, gehöre ich dazu.« Auf der anderen Seite: »Mädchen sind schlecht in Mathe. Weil ich ein Mädchen bin, kann ich so gut also gar nicht sein.« Warum sind Schulen, obwohl das Problem seit Jahrzehnten diskutiert wird, hier noch nicht weitergekommen? Wie kann sich ein für alle frustrierendes Klischee bloß so lange halten?
Die Macht der Rollenklischees
Es gibt eine ganze Reihe von Untersuchungen, die den Einfluss stereotyper Ansichten auf das Selbstbild und auf die Leistungen von Erwachsenen nachweisen. Claude M. Steele von der Stanford University, Kalifornien, nutzte den Begriff ›Stereotype Threat‹ zum ersten Mal, als er 1995 in mehreren Experimenten nachweisen konnte, dass Schwarze College-Studierende in Tests schlechter abschnitten, wenn sie zuvor auf ihre Hautfarbe hingewiesen wurden4. Fiel dieser Hinweis weg, schnitten sie gleich gut und besser ab als die übrigen Teilnehmenden. Später teilte er Testpersonen in zwei Gruppen auf, die in ihren mathematischen Leistungen vergleichbar waren. Der einen Gruppe wurde gesagt, dass Männer und Frauen bei diesem Mathetest bisher immer sehr unterschiedlich abgeschnitten hätten, bei der anderen Gruppe gab es keinen Hinweis zum Geschlecht. In der ersten Gruppe fiel das Ergebnis der Frauen deutlich schlechter aus als in der Kontrollgruppe. Und eine Folgestudie5 zeigte, dass dieser Effekt noch zunimmt, je größer die mathematischen Kenntnisse der Teilnehmenden sind und je wichtiger sie ihre Fähigkeiten und damit auch die Testergebnisse nehmen. Die Aufgaben dieses Mathetests stammten aus dem Graduate Record Examination Test, den US-amerikanische Student*innen absolvieren müssen, wenn sie an einer Universität Naturwissenschaften studieren wollen. Die Stereotypbedrohung wirkte in diesem Experiment gleich in zweierlei Hinsicht. Das negative Vorurteil beeinflusst die Teilnehmerinnen in ihren Leistungen, denn ein Teil ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit ist permanent damit beschäftigt, die negativen und störenden Gedanken zu unterdrücken. Hinzu kam in diesem Fall die Angst, durch das eigene Scheitern die negativen Vorurteile zu bestätigen oder gar zu verstärken. Weil die getesteten Frauen sich in ihrem Selbstverständnis als lebenden Gegenbeweis für dieses Stereotyp fühlten, waren ihre Versagensängste entsprechend größer. Beide Faktoren sind nicht gerade geeignet, gute Leistungen bei einem Mathetest zu erzielen. Trotzdem schnitten die beteiligten Frauen unter Stereotypbedrohung nicht schlechter ab als die übrigen Teilnehmenden. Das überraschende Ergebnis war, dass die Frauen in der Gruppe ohne die Bedrohung durch Stereotype signifikant besser waren als alle anderen Teilnehmenden. Das führte die Forscher*innen zu der Schlussfolgerung, dass der Graduate Record Examination Test, wie auch viele andere Prüfungen, üblicherweise in einem Szenario stattfinden, das die eigentlichen Fähigkeiten der Studentinnen unterdrückt. In diesem Zusammenhang betrachtet, bekommt der subjektive