Die Rosa-Hellblau-Falle. Almut Schnerring

Die Rosa-Hellblau-Falle - Almut Schnerring


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Nur die Jungs, die das wollen. Und damit sie das selbst herausfinden können, ist es Aufgabe der Erwachsenen, ihnen Spielzeug und Kleidung ohne Geschlechterlabel und ohne einschränkende Kommentare anzubieten. Wahlfreiheit ist das Stichwort. Leicht wird das nicht werden, denn durch Werbung, durch Bilder- und Schulbücher, Familienmitglieder und andere Erwachsene und natürlich von vielen Gleichaltrigen erfahren sie, dass Puppen »was für Mädchen« seien. Und genau das ist die Rosa-Hellblau-Falle, die immer bereit steht im Alltag von Kindern, und die es ihnen so schwer macht, individuelle Entscheidungen zu treffen. Denn wer will schon »anders« sein und von anderen als »untypisch« belächelt werden. Doch Kinder, die ein starkes Selbstbewusstsein haben und von ihren Eltern Rückendeckung bekommen, wenn sie in ihren Entscheidungen und ihrem Tun nicht dem Klischee entsprechen, haben es leichter, an ihren Vorlieben festzuhalten. Erwachsene können ihnen helfen, dass sie individuelle Wünsche nicht aufgeben müssen, bloß weil sie nicht der entsprechenden Geschlechternorm genügen.

       Und wenn ein Junge Röcke anziehen möchte, muss man ihn dann nicht schützen vor den Hänseleien der Anderen?

      Wir verstehen die Sorge dahinter und das Bedürfnis, geben aber zu bedenken, dass Eltern sich dadurch genau jene Regeln zu eigen machen und sie ihrem Kind weiterreichen, die ja erst zu der befürchteten Ausgrenzungssituation führen. Dem Kind Dinge zu verbieten (oder ihm nahezulegen, sich dagegen zu entscheiden), die dem anderen Geschlecht zugeschrieben werden, steht im Widerspruch zur Überzeugung, selbst keine Rollenklischees weiterzureichen. Ist es nicht viel mehr Aufgabe der Eltern, dem Kind den Rücken zu stärken und es in seinen Wünschen zu unterstützen? Schließlich muss nicht das Kind, das sich untypisch kleidet, lernen, mit Hänseleien umzugehen, sondern die hänselnden Kinder (Eltern und Fachkräfte) müssen lernen und verinnerlichen, dass »anders« nicht gleich »falsch« ist. Sie sind es, die lernen müssen, dass ihr Hänseln, ihre Intoleranz, ihre engen Vorstellungen von einem »richtigen« Jungen Kritik erfährt und nicht akzeptiert wird! Und nicht das Kind mit dem altmodischen Pullover, jenes mit der dunkleren Haut oder der Junge mit rosa Hausschuhen, oder das Kind, das seinen Papa nicht kennt, das eine Gehhilfe hat oder das Mädchen, das (noch) kein Deutsch versteht.

      Die Entscheidung gegen Rosa, gegen aufwändige Rüschenkleidung zum Beispiel ist ja durchaus legitim, wenn sie für beide Geschlechter gilt. Würde meine Tochter sich rosa Glitzerschühchen mit Absatz wünschen, würde ich sie nämlich auch nicht kaufen. Dass mein Sohn keine hat, liegt also nicht an der Tatsache, dass er ein Junge ist, sondern, dass ich etwas gegen ungemütliche Schuhe habe, mit denen mein Kind beim Fangen Spielen wahrscheinlich am Rand steht und zuschaut.

       »Also bei uns werden alle Kinder gleich behandelt« oder »Lasst doch die Kinder Kinder sein«

      Gut, das sind keine Fragen. Aber ein großzügiges Wegwischen all unserer Anliegen, wie wenn wir ein Problem in die Welt gesetzt hätten, das sonst niemand kennt. Tatsächlich geht die Mehrheit der Eltern davon aus, Kinder »neutral« zu erziehen. Und wenn sich die Tochter dann doch fürs Ballett entscheidet, obwohl sie einen Fußball geschenkt bekommen hat, und wenn der Sohn die Autokiste vorzieht, obwohl er sich eine Puppe aussuchen durfte, dann ziehen viele den Rückschluss, es müsse an der Biologie liegen, die Gene seien verantwortlich, die Hormone, die Steinzeit… der eigene Einfluss und die allgegenwärtigen Botschaften werden dabei komplett ausgeblendet. Tatsächlich ändern Erwachsene ihr Verhalten gegenüber einem Kind schon vor Geburt, sobald sie das Geschlecht des Ungeborenen erfahren. (vgl. Kapitel 1 »Von Beginn an zwei Welten. Warum wir schon vor der Geburt Unterschiede machen«) Und in einer Welt, die Kinder ab Tag Eins in die Kategorie Mädchen und Jungen einsortiert, noch bevor sie sie als Kinder sieht, verstärken sich Geschlechterunterschiede im Lauf der Entwicklung, egal wie klein sie zu Beginn sein mögen. Insofern ja, sehr einverstanden! »Lasst doch die Kinder Kinder sein!« Und beginnen wir damit, sie nicht mehr in zwei enge Schubladen zu stecken, sondern lassen sie selbst entscheiden und ihre Welt entdecken.

      Interessant dazu: Studien, die belegen, wie unterschiedlich Kinder abhängig von ihrem Geschlecht behandelt werden: babyx.rosa-hellblau-falle.de

       Aber habt ihr bedacht, dass Jungs schon allein wegen des Testosterons von Natur aus wilder sind?

      Das ist ein weit verbreiteter Gedanke, bloß dass der Testosteronspiegel vor der Pubertät bei Kindern in etwa gleich hoch ist – er liegt nahe Null. Studien zeigen aber, dass von Jungen grundsätzlich ein wilderes Verhalten erwartet und akzeptiert wird, und Mädchen häufiger dazu angehalten werden, ruhig und brav zu sein. Auf diese Weise erfahren Kinder, wie Erwachsene sich einen »normalen« Jungen vorstellen und welche unterschiedlichen Normen die Gesellschaft für sie bereithält. Die Wechselwirkung von Verhalten und verändertem Hormonspiegel ist dagegen unterschätzt: Väter, die sich um ihre Kinder kümmern, haben einen niedrigeren Testosteronspiegel, der wieder steigt, wenn sie sich anderem zuwenden. Sport und Wettkampf sorgen dafür, dass der Testosteronspiegel steigt, bei Frauen wie bei Männern – was wieder belegt, dass unser Verhalten auch uns selbst verändert. Beim für uns entscheidenden Thema Bagger oder Puppe, Fußball oder Ballett und der geschlechtergerechten Pädagogik ist der Testosteronspiegel also irrelevant. (Mehr dazu im Unterkapitel »Die Testosteron-Keule«)

       Ihr wollt also die Geschlechter abschaffen und alle gleich machen

      Bedeutet es nicht viel mehr, alle gleich zu machen, wenn man die Unterschiede zweier Geschlechter über alles stellt, und davon ausgeht, dass DIE Jungen/Männer beziehungsweise DIE Mädchen/Frauen ähnliche Interessen hätten und die Unterschiede innerhalb ihrer Gruppe ignoriert? Die Vereinheitlichung auf beiden Seiten einer Mauer hat eine Gleichmacherei zur Folge, und darin liegt unser Kritikpunkt: Abenteuer, Technik und Bewegung Jungen zuzuschreiben und zu meinen, Mädchen interessieren sich per se für Haushaltsdinge, Make-up und Ponys. Wer findet »Jungs sind nun mal wild« und »Mädchen sind eben ruhiger«, wer also Kindern allein aufgrund ihres (zugeschriebenen) Geschlechts ganz bestimmte Eigenschaften und Interessen zuweist, kämmt alle Mädchen über einen pinken Kamm und steckt alle Jungen in dieselbe Ecke. Dadurch wird ein Kind, sobald es sich für etwas interessiert, das Erwachsene nicht für sein Geschlecht vorgesehen haben, als untypisch gelabelt. Vorlieben beim Spiel oder bestimmte Verhaltensweisen sind zunächst einmal keine Hinweise aufs Geschlecht, sondern Ausdruck der Persönlichkeit.

      Mehr FAQs unter rosa-hellblau-falle.de/faqs

       EINLEITUNG

      Wer im Kaufhaus in die Spielzeugabteilung hinauffährt, taucht in einer zweigeteilten Welt wieder auf. Ein ganzes Stockwerk ist unterteilt in zwei Zonen: Auf der einen Seite markieren Blassrosa und Pink, »was Mädchen mögen«. Auf der anderen Seite sind die Verpackungen vorwiegend schwarz und dunkelblau und kennzeichnen das Spielzeugreich der Jungen. Links sind die Regale gefüllt mit pastellfarbenen Pferden, glitzernden Feen, kuscheligen Kuscheltieren, Mini-Küchen und allem, worauf die Puppen nicht verzichten können. Rechts blicken wilde Monster, Ritter und bewaffnete Science-Fiction-Kämpfer durch die Plastikfenster der Spielzeugschachteln, und es stapeln sich die Bausätze für Fahrzeuge und Maschinen. Auf einem ganzen Stockwerk spiegeln sich die traditionellen Rollenzuschreibungen wider, von denen wir glaubten, sie in den vergangenen Jahrzehnten überwunden zu haben.

      Hier werden keine Klischees reproduziert oder gar verstärkt, sagen die Marketingstrateg*innen1 der Spielzeugindustrie, hier werden einfach die natürlichen Grundbedürfnisse von Jungen und Mädchen befriedigt. Und sie behaupten, ganz genau zu wissen, was »typisch männlich« und »typisch weiblich« ist. Zwar besteht darüber in der Wissenschaft keinesfalls Einigkeit, und weder Evolutionsbiolog*innen noch Genderwissenschaftler*innen würden allgemeingültige Aussagen dieser Art unterschreiben, aber solange dort noch geforscht wird und Uneinigkeit herrscht, lassen sich Behauptungen wie »Ritter suchen den Wettbewerb, Prinzessinnen wollen dazugehören«2


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