Achtsames Selbstmitgefühl unterrichten. Кристин Нефф
in unserem Leben stets nach Wunsch laufen wird: »Entschuldigung, da muss ein Irrtum vorliegen. Ich habe mich für das Programm ›Alles wird bis zu meinem Todestag perfekt laufen‹ angemeldet. Kann ich bitte mein Geld zurückhaben?« Es ist absurd, und doch glauben die meisten von uns, dass etwas furchtbar schiefgelaufen ist, wenn wir scheitern oder wenn das Leben eine unerwünschte Wendung nimmt. Tara Brach (2003) schreibt: »Das Gefühl, nichts wert zu sein, geht Hand in Hand mit dem Gefühl, von anderen getrennt zu sein, vom Leben getrennt zu sein. Wie können wir überhaupt dazugehören, wenn wir defekt sind?« Das erzeugt erschreckende Gefühle der Isolation und Einsamkeit, die unser Leiden enorm verschlimmern. Mit Selbstmitgefühl erkennen wir jedoch, dass Herausforderungen und persönliches Versagen zum Menschsein gehören; wir alle machen solche Erfahrungen. In Wirklichkeit sind unsere Fehler und Schwächen das, was uns zu Mitgliedern der menschlichen Spezies macht. Dieses Element der gemeinsamen menschlichen Daseinserfahrung hilft uns auch, zwischen Selbstmitgefühl und Selbstakzeptanz oder Selbstliebe zu unterscheiden. Selbstakzeptanz und Selbstliebe sind zwar wichtig, aber sie sind für sich allein unvollständig. Sie lassen einen wesentlichen Faktor aus: andere Menschen. Mitgefühl hat per Definition mit »Beziehung« zu tun. Es impliziert eine grundlegende Gegenseitigkeit in der Erfahrung des Leidens und beruht auf der Anerkennung der Tatsache, dass die menschliche Daseinserfahrung unvollkommen ist. Warum sonst würden wir sagen: »Es ist nur menschlich«, um jemanden zu trösten, der einen Fehler gemacht hat?
Selbstmitgefühl erkennt die Tatsache an, dass alle Menschen fehlbar sind, dass es unvermeidlich zum Leben gehört, »falsch abzubiegen«. (Wie sagt man so schön: »Ein gutes Gewissen weist gewöhnlich auf ein schlechtes Gedächtnis hin.«) Wenn wir in Kontakt mit unserer gemeinsamen Menschlichkeit sind, erinnern wir uns daran, dass jeder und jede von uns Gefühle der Unzulänglichkeit und Enttäuschung kennt. Der Schmerz, den ich in schwierigen Zeiten empfinde, ist der gleiche Schmerz, den du in schwierigen Zeiten empfindest. Die Auslöser, die Umstände und der Grad des Schmerzes mögen sich unterscheiden, aber der Prozess ist derselbe. Mit Selbstmitgefühl ist jeder Moment des Leidens eine Gelegenheit, sich anderen näher und verbundener zu fühlen. Es erinnert uns daran, dass wir nicht allein sind.
Achtsamkeit versus Überidentifikation
Um Mitgefühl mit uns selbst zu haben, müssen wir bereit sein, uns unserem eigenen Schmerz zuzuwenden, ihn achtsam anzuerkennen. Achtsamkeit ist eine Art ausgeglichenes Gewahrsein, das unsere Erfahrung in jedem Augenblick weder ablehnt noch meidet oder übertreibt. Wie Jon Kabat-Zinn (1994) schreibt, bedeutet Achtsamkeit, »auf eine bestimmte Art aufmerksam zu sein: bewusst, im gegenwärtigen Moment und unvoreingenommen«. In diesem empfänglichen Geisteszustand werden wir unserer negativen Gedanken und Gefühle gewahr und können einfach mit ihnen sein, so wie sie sind, ohne dagegen anzukämpfen oder sie zu leugnen. Wir erkennen, wenn wir leiden, ohne sofort zu versuchen, unsere Gefühle »in Ordnung« oder zum Verschwinden zu bringen.
Wir denken vielleicht, dass wir unseres Leidens gar nicht achtsam gewahr werden müssen. Es ist doch offensichtlich, nicht wahr? Nein, eigentlich nicht. Natürlich spüren wir den Schmerz darüber, dass wir unseren Idealen nicht gerecht werden, aber unser Geist neigt dazu, sich auf das Scheitern zu konzentrieren und nicht auf den Schmerz, den es auslöst. Das ist ein entscheidender Unterschied. Wenn unsere Aufmerksamkeit vollständig von unseren wahrgenommenen Unzulänglichkeiten in Anspruch genommen wird, können wir keine Distanz dazu herstellen. Wir identifizieren uns übermäßig mit unseren negativen Gedanken oder Gefühlen und werden von unseren aversiven Reaktionen mitgerissen. Dieses ständige Grübeln verengt unseren Blick und hat negative Konsequenzen für unsere Selbstachtung (Nolen-Hoeksema, 1991): »Ich habe nicht nur versagt, ich bin eine Versagerin. Ich bin nicht nur enttäuscht, mein Leben ist enttäuschend.« Überidentifikation bedeutet, dass wir unsere momentane Erfahrung verfestigen und vorübergehende Ereignisse als endgültig und permanent wahrnehmen.
Mit Achtsamkeit ändert sich jedoch alles. Anstatt unsere negativen Vorstellungen über uns selbst mit unserem eigentlichen Selbst zu verwechseln, können wir erkennen, dass unsere Gedanken und Gefühle eben nichts weiter sind als das: Gedanken und Gefühle. So müssen wir uns nicht länger von der »Story« über unser unzulängliches, wertloses Selbst vereinnahmen lassen. Wie ein klarer, stiller See ohne Wellen spiegelt Achtsamkeit ohne Verzerrung wider, was geschieht, sodass wir einen objektiveren Blick auf uns selbst und unser Leben bekommen können. Achtsamkeit gibt uns auch den geistigen Raum und die Gelassenheit, die wir brauchen, um Dinge anders zu sehen und zu tun. Indem wir achtsam sind, können wir weise die beste Handlungsrichtung bestimmen, um uns selbst zu helfen, wenn wir in Not sind – auch wenn das bedeutet, unsere Erfahrung einfach nur in freundlichem Gewahrsein zu halten. Es erfordert Mut, sich dem eigenen Schmerz zuzuwenden und ihn anzuerkennen, aber dieser mutige Akt ist unerlässlich, wenn sich unser Herz als Antwort auf das Leiden öffnen soll. Wir können nicht heilen, was wir nicht fühlen. Aus diesem Grund ist Achtsamkeit die Säule, auf der Selbstmitgefühl ruht. Sharon Salzberg (2011a) schreibt:
»Achtsamkeit, die uns aus der Umklammerung negativer Gefühle befreit, lässt unsere Aufmerksamkeit flexibel und umfassend werden und gibt uns Auftrieb. Das verleiht uns die Flexibilität, unsere Erfahrung aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten, um über starre Charakterisierungen wie ›Ich bin so dumm und werde es immer bleiben‹ oder ›Du bist so ein schlechter Mensch und wirst es immer sein‹ hinausblicken zu können. Sie öffnet die Tür für liebevolle Güte und Mitgefühl.«
Während sich die Elemente des Selbstmitgefühls konzeptionell unterscheiden und nicht »im Gleichschritt« gehen, beeinflussen sie sich gegenseitig. Beispielsweise trägt die akzeptierende Haltung der Achtsamkeit dazu bei, dass wir uns weniger verurteilen, und sie schenkt uns die Einsichten, die wir brauchen, um unsere gemeinsame Erfahrung des Menschseins erkennen zu können. In ähnlicher Weise mildert Freundlichkeit gegenüber uns selbst die Auswirkungen negativer emotionaler Erfahrungen ab und macht es uns leichter, sie achtsam wahrzunehmen. Die Erkenntnis, dass Leiden und persönliches Versagen eine universale menschliche Erfahrung sind, verringert das Ausmaß der Selbstbeschuldigung und trägt auch dazu bei, den Prozess der Überidentifikation zu stoppen. So kann Selbstmitgefühl als dynamisches System betrachtet werden, das ein synergistisches Geschehen zwischen seinen verschiedenen Elementen darstellt (Neff 2016b).
In welchem Verhältnis steht Selbstmitgefühl zu Achtsamkeit?
Weil so viel über die positiven Auswirkungen von Achtsamkeit auf das Wohlbefinden geschrieben wurde (Davis und Hayes, 2011; Keng, Smoski, Robins, Ekblad und Brantley, 2012) und weil Achtsamkeit ein Kernelement des Selbstmitgefühls ist, lohnt es sich, einmal darüber nachzudenken, worin sich Achtsamkeit und Selbstmitgefühl ähneln und unterscheiden. In einem viel beachteten Artikel von Bishop und Kollegen (2004) definierte ein Team von Wissenschaftlern Achtsamkeit als die metakognitive Fähigkeit, die Aufmerksamkeit auf die Erfahrung des gegenwärtigen Moments zu lenken und gleichzeitig eine interessierte, urteilsfreie Einstellung gegenüber dieser Erfahrung aufrechtzuerhalten. Beides erklärt, wieso Achtsamkeit so wirksam ist. Das achtsame Wahrnehmen des gegenwärtigen Moments hält uns davon ab, uns in der Grübelei über die Vergangenheit oder in der Angst vor der Zukunft zu verlieren. Das Annehmen unserer Erfahrung hilft uns, die Frustration und den Stress zu vermeiden, die aus dem Kampf und Widerstand gegen das resultieren, was uns nicht gefällt. Anders ausgedrückt, bedeutet dies, dass wir nicht mit dem Kopf gegen die Wand der Realität schlagen und eine ohnehin schwierige Situation dadurch noch viel schlimmer machen.
Erwähnenswert ist, dass Achtsamkeit als Element von Selbstmitgefühl auf einen engeren Bereich begrenzt ist als Achtsamkeit im allgemeineren Sinn. Die Achtsamkeitskomponente des Selbstmitgefühls bezieht sich speziell auf das Gewahrsein negativer Gedanken und Gefühle. Achtsamkeit im Allgemeinen bezieht sich jedoch auf die Fähigkeit, jede Erfahrung – positiv, negativ oder neutral – mit Gleichmut wahrzunehmen. Während es möglich ist, Achtsamkeit beim Essen einer Rosine zu üben (eine Übung, die häufig beim Lehren von Achtsamkeit angewandt wird, siehe Kabat-Zinn, 1990), würde es keinen Sinn ergeben, sich für das Essen einer Rosine Mitgefühl entgegenzubringen – es sei denn, man hätte vielleicht als Kind beim Essen einer Rosine eine traumatische Erfahrung gemacht!
Selbstmitgefühl in seiner