Achtsames Selbstmitgefühl unterrichten. Кристин Нефф
auf den wir uns immer verlassen können, in guten wie in schlechten Zeiten.
Die üblichen Vorbehalte gegenüber Selbstmitgefühl
In unserer westlichen Kultur gibt es viele Widerstände gegenüber dem Selbstmitgefühl, die oft aus falschen Vorstellungen über seine Bedeutung und seine Konsequenzen resultieren (Robinson et al., 2016). In Kapitel 3 werden Forschungsergebnisse vorgestellt, die mit diesen falschen Vorstellungen aufräumen, aber es lohnt sich, an dieser Stelle einmal über die häufigsten Einwände gegen Selbstmitgefühl nachzudenken.
Ein weitverbreitetes Missverständnis ist, Selbstmitgefühl sei egoistisch. Viele Menschen sind der Meinung, wir würden, wenn wir Zeit und Energie aufwenden, um freundlich und fürsorglich mit uns selbst umzugehen, automatisch alle anderen für unsere selbstsüchtigen Ziele vernachlässigen. Aber ist Mitgefühl wirklich ein Nullsummenspiel? Denken Sie an die Zeiten, in denen Sie sich in den Wirren der Selbstkritik verloren haben. Sind Sie in solchen Momenten auf sich selbst fokussiert oder auf andere? Haben Sie in solchen Zeiten mehr oder weniger Ressourcen zur Verfügung, um anderen etwas zu geben? Die meisten Menschen finden, dass sie, wenn sie damit beschäftigt sind, über sich selbst zu urteilen, tatsächlich kaum noch Kapazitäten frei haben, um an irgendetwas anderes zu denken als an ihr vermeintlich unzulängliches, wertloses Selbst.
Leider geht das Ideal, bescheiden und zurückhaltend zu sein und sich um das Wohlergehen anderer zu kümmern, oft mit einer Tendenz einher, sich selbst schlecht zu behandeln. Das gilt ganz besonders für Frauen. Man hat festgestellt, dass sie ein etwas geringeres Maß an Selbstmitgefühl haben als Männer, während sie tendenziell fürsorglicher, empathischer und großzügiger gegenüber anderen sind (Yarnell et al., 2015). Vielleicht ist das nicht so überraschend, wenn man bedenkt, dass die herkömmliche Sozialisation von Frauen darauf ausgerichtet war und ist, sich selbstlos um ihren Partner, ihre Kinder, ihre Freunde und ihre alten Eltern zu kümmern, man ihnen aber weniger oder nicht beigebracht hat, gut für sich selbst zu sorgen. Während die feministische Revolution den Frauen mehr Freiräume eröffnet hat und wir heute durchaus mehr weibliche Führungspersönlichkeiten in Wirtschaft und Politik sehen als je zuvor, ist die Vorstellung, dass Frauen selbstlose Betreuerinnen sein sollten, nicht wirklich verschwunden. Es ist nur so, dass von Frauen heutzutage erwartet wird, zusätzlich zu ihrer Aufgabe als häusliche Versorgerin im Beruf erfolgreich zu sein.
Die Ironie dabei ist, dass uns gerade dann, wenn wir gut zu uns selbst sind, die emotionalen Ressourcen zur Verfügung stehen, um gut zu anderen sein zu können, während ein unfreundlicher Umgang mit uns selbst dem eher im Wege steht. So zeigt beispielsweise die Forschung, dass Menschen, die Mitgefühl mit sich selbst haben, von ihren Partnern als fürsorglicher und liebevoller in der Beziehung wahrgenommen werden (Neff und Beretvas, 2013). Das ist plausibel. Wenn ich mich selbst schlecht behandle und von meiner Partnerin oder meinem Partner erwarte, dass er all meine emotionalen Bedürfnisse erfüllt, werde ich mich schlecht verhalten, sofern sie nicht erfüllt werden. Bin ich aber in der Lage, mir selbst Unterstützung und Fürsorge zu geben und somit viele meiner Bedürfnisse direkt zu erfüllen, habe ich mehr emotionale Ressourcen zur Verfügung und kann meinem Partner oder meiner Partnerin mehr geben.
Ein anderer weitverbreiteter Irrtum über Selbstmitgefühl ist die Vorstellung, es bedeute, dass wir uns selbst leidtun – dass es nur eine andere Form von Selbstmitleid sei. Tatsächlich ist Selbstmitgefühl aber ein Mittel gegen Selbstmitleid und gegen die Angewohnheit, sich über Unglück zu beklagen. Aber nicht, weil Selbstmitgefühl bedeuten würde, alles Schlimme auszublenden, sondern weil es unsere Bereitschaft erhöht, schwierige Gefühle mit liebevoller Güte anzunehmen, zu durchleben und anzuerkennen – was uns paradoxerweise hilft, das, was uns widerfuhr, zu verarbeiten und weiterzumachen. Menschen, die Mitgefühl mit sich selbst haben, verlieren sich seltener in selbstmitleidigen Gedanken darüber, wie schlimm alles ist (Raes, 2010). Das scheint einer der Gründe zu sein, warum selbstmitfühlende Menschen sich einer besseren psychischen Gesundheit erfreuen. Während beim Selbstmitleid egozentrische Gefühle des Getrenntseins im Vordergrund stehen und das Ausmaß der persönlichen Not übertrieben wird, können wir durch Selbstmitgefühl unser eigenes Leiden mit dem anderer verbinden. Es weicht die inneren Grenzen zwischen uns und anderen auf, statt sie zu verstärken. Darüber hinaus trägt die Anerkennung der Erfahrung gemeinsamen Menschseins dazu bei, unsere eigene Situation zu relativieren. Das bedeutet nicht, dass wir die Realität unseres eigenen Leidens verleugnen; aber wenn wir das große Ganze betrachten, sind unsere Probleme vielleicht nicht so groß, wie wir denken.
Manche Menschen fürchten, Selbstmitgefühl sei ein Zeichen von Schwäche oder Feigheit oder zumindest von Passivität. In diesem Fall wird das Empfinden von Mitgefühl mit »immer nett sein« verwechselt. Doch wie bereits erwähnt wurde, kann Selbstmitgefühl in seinem Yang-Aspekt sehr beherzt und kraftvoll sein und eine starke und resolute Haltung gegenüber allem einnehmen, was Schaden anrichtet. Anstatt eine Schwäche zu sein, ist Selbstmitgefühl eine wichtige Ressource der Bewältigung und Resilienz. Wenn wir große Lebenskrisen wie eine Scheidung, eine schwere Krankheit oder ein Trauma durchleben, macht Selbstmitgefühl den entscheidenden Unterschied im Hinblick auf unsere Fähigkeit, zu überleben und sogar angesichts widriger Umstände zu erstarken (Brion, Leary und Drabkin, 2014; Hiraoka et al., 2015; Sbarra, Smith und Mehl, 2012). Nicht nur das, womit wir im Leben konfrontiert werden, sondern wie wir mit uns selbst in Beziehung treten, wenn es hart auf hart kommt – als innere Verbündete oder Feinde –, bestimmt unsere Fähigkeit, Schwierigkeiten erfolgreich zu meistern.
Eine weitere falsche Vorstellung über Selbstmitgefühl ist die, dass es zu übertriebener Nachsichtigkeit führen könnte. Bedeutet Freundlichkeit gegenüber uns selbst denn nicht, dass wir uns geben, was wir wollen, und uns alles durchgehen lassen? (»Ich fühle mich traurig. Hm. Diese Packung Eiscreme sieht gerade ziemlich verlockend aus.«) Wir müssen uns daran erinnern, dass beim Selbstmitgefühl der Blick auf das Ziel gerichtet ist – die Linderung von Leiden. Übergroße Nachsicht führt hingegen dazu, dass wir uns kurzzeitiges Vergnügen gönnen, das uns langfristig schadet. Eine mitfühlende Mutter würde ihrer Tochter nicht einen Becher Eis nach dem anderen geben und ihr Kind nicht die Schule schwänzen lassen, wann immer es wollte, nicht wahr? Das wäre unangemessene Nachsichtigkeit. Stattdessen fordert eine mitfühlende Mutter ihr Kind auf, seine Hausaufgaben zu machen und sein Gemüse zu essen. Selbstmitgefühl vermeidet Genusssucht, weil diese uns schadet, während langfristiges Wohlergehen oft ein Aufschieben der Belohnung erfordert.
Viele Menschen zweifeln am Wert des Selbstmitgefühls, weil sie sich fragen: »Aber müssen wir denn nicht manchmal selbstkritisch sein?« In diesem Fall wird harte Selbstverurteilung mit konstruktiver Kritik verwechselt. Selbstmitgefühl verzichtet auf herabsetzende, demütigende Selbstverurteilung wie »Ich bin ein fauler, nichtsnutziger Loser«. Wenn wir uns selbst am Herzen liegen, werden wir konstruktive Wege finden, die Dinge besser zu machen. Solche Kritik bezieht sich jedoch immer auf konkrete Verhaltensweisen und geht nicht mit pauschaler Selbstverurteilung einher. Beispielsweise könnte eine mitfühlende innere Stimme sagen: »Die Tatsache, dass du seit sechs Monaten nicht im Fitnessstudio warst, hat dazu geführt, dass du dich müde und abgeschlagen fühlst. Vielleicht solltest du etwas daran ändern.« Das ist eine nutzbringendere Form der Rückmeldung als »Du bist ein fauler Hund!« (Und sicherlich weniger verletzend.) Oft bestimmt auch der Ton der Botschaft, ob eine Kritik konstruktiv oder destruktiv ist.
Da viele Menschen annehmen, Selbstmitgefühl sei nichts anderes als Selbstakzeptanz (Yin), ohne zu verstehen, dass es auch bedeutet, aktiv zu werden (Yang), fürchten sie, dass Selbstmitgefühl ihre Motivation, sich weiterzuentwickeln, untergraben würde. Sie denken, dass sie automatisch einem trägen Defätismus erlägen, wenn sie sich nicht dafür kritisierten, dass sie den Ansprüchen, die sie an sich selbst stellen, nicht gerecht geworden sind. Leider ist dies ein wichtiger Hinderungsgrund für Selbstmitgefühl. Aber denken wir einmal kurz darüber nach, wie mitfühlende Eltern ihre Kinder erfolgreich motivieren. Wenn Ihr jugendlicher Sohn eines Tages mit einer schlechten Englischnote nach Hause kommt, könnten Sie angewidert schauen und zischen: »Dummer Kerl. Aus dir wird nie etwas werden. Ich schäme mich für dich.« (Das lässt Sie zusammenzucken, nicht wahr? Aber es ist genau das, was wir zu uns selbst sagen, wenn wir die hohen Erwartungen, die wir an uns selbst