Achtsames Selbstmitgefühl unterrichten. Кристин Нефф

Achtsames Selbstmitgefühl unterrichten - Кристин Нефф


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Erfahrung des Menschseins impliziert: sich selbst aktiv beruhigen und trösten, wenn schmerzliche Erfahrungen auftauchen, und sich daran erinnern, dass solche Erfahrungen zum Menschsein gehören. Diese Qualitäten sind nicht von Natur aus Teil der Achtsamkeit, wie sie im engeren Sinne definiert wird. Freundlichkeit gegenüber sich selbst und das Gewahrsein der gemeinsamen Erfahrung des Menschseins können natürlich die achtsame Wahrnehmung schmerzhafter Erlebnisse begleiten, sodass mit der Achtsamkeit oft Selbstmitgefühl aufkommt. Die beiden tauchen jedoch nicht immer in voller Ausprägung gemeinsam auf. Es ist ja möglich, schmerzlicher Gedanken und Gefühle bis zu einem gewissen Grad gewahr zu sein, ohne sich aktiv zu beruhigen oder zu trösten oder sich daran zu erinnern, dass diese Gefühle Teil unserer gemeinsamen menschlichen Daseinserfahrung sind. Unsere Achtsamkeit steht nicht immer »in voller Blüte«. Manchmal ist ein zusätzliches bewusstes Engagement erforderlich, um mitfühlend mit unserem eigenen Leiden umzugehen, insbesondere wenn unsere schmerzlichen Gedanken und Emotionen mit Selbstverurteilung und Gefühlen der Unzulänglichkeit einhergehen.

      Ein weiterer Unterschied zwischen Achtsamkeit und Selbstmitgefühl ergibt sich durch ihre jeweiligen Zielobjekte. Während Achtsamkeit ein Weg ist, sich auf die jeweilige Erfahrung zu beziehen, stellt Selbstmitgefühl eine Beziehung zum leidenden Erfahrenden her (Germer, 2009; ­Germer und Barnhofer, 2017). Achtsamkeit akzeptiert, ohne zu urteilen, die Gedanken, Gefühle und Empfindungen, die im Gewahrsein des gegenwärtigen Moments auftauchen. Mitgefühl entspringt dem Wunsch, alle fühlenden Wesen mögen glücklich und frei von Leiden sein (Salzberg, 1995). Wenn Sie beispielsweise einen stechenden Schmerz in Ihrem linken Knie achtsam wahrnehmen, bedeutet dies, dass Sie der heißen, pulsierenden Empfindung ohne Wertung oder Widerstand gewahr sind, was einen inneren Raum schafft, in dem die Empfindung einfach so erfahren werden kann, wie sie ist. Wenn Selbstmitgefühl als Reaktion auf das Leiden entsteht, löst die Tatsache, dass Sie Knieschmerzen haben, auch Gefühle der Zuwendung und Fürsorge aus. Das bedeutet, dass gleichzeitig mit der achtsamen und widerstandslosen Akzeptanz Ihrer Erfahrung im gegenwärtigen Moment auch der Wunsch besteht, Sie als Erfahrender mögen in zukünftigen Momenten frei von Leiden sein.

      Achtsamkeit und Selbstmitgefühl erscheinen auf gewisse Weise paradox. Achtsamkeit lädt uns ein, einfach mit der Erfahrung zu »sein«, während Selbstmitgefühl mehr aufs »Tun« ausgerichtet ist. Selbstmitgefühl motiviert uns, uns selbst zu beruhigen, zu trösten und so weit wie möglich zu unterstützen, wenn wir mit einer schwierigen Erfahrung konfrontiert sind (beispielsweise könnte Aufstehen und Dehnen eventuell dazu beitragen, die Knieschmerzen zu lindern). Der Grund, warum dieses »Sein« und »Tun« gleichzeitig möglich ist, liegt darin, dass das »Tun« hier eine besondere Art und Weise ist, mit dem fühlenden Wesen, das diese Erfahrung macht, in Beziehung zu treten. Eine selbstmitfühlende Haltung bedeutet, dass wir uns selbst voller Mitgefühl annehmen, weil wir leiden, und dass wir nicht die Einstellung haben: »Ich werde freundlich zu mir sein, um diesen Schmerz loszuwerden!« Wenn Selbstmitgefühl in den Dienst des Widerstands gestellt wird, wird es unser Leiden vergrößern, anstatt es zu lindern. Achtsamkeit hilft uns, den inneren Raum der Akzeptanz aufrechtzuerhalten.

      Dasselbe kann passieren, wenn wir mit dem Leiden anderer konfrontiert sind. Wenn Ihnen jemand von einer schmerzlichen Situation berichtet und Sie nicht wirklich zuhören und sich in den Schmerz dieser Person einfühlen, sondern sofort Ratschläge geben, um das Problem zu lösen (und Ihr eigenes Unbehagen loszuwerden), sind Sie nicht wirklich mitfühlend. Mitgefühl setzt die Achtsamkeit voraus, sich dem Schmerz zuzuwenden und seine Existenz ohne Widerstand zu akzeptieren. Während Mitgefühl auf die Linderung des Schmerzes fokussiert ist, ist es nicht abhängig vom Ergebnis (zum Beispiel: »Ich werde weiterhin freundlich und verständnisvoll sein, auch wenn der Schmerz nicht nachlässt.«). Andererseits bietet Mitgefühl die emotionale Sicherheit, die notwendig ist, um den Schmerz ganz zu fühlen, offen für ihn zu sein und seine Existenz zu akzeptieren: um achtsam zu sein. So verstärken sich Achtsamkeit und Mitgefühl gegenseitig und sind im Grunde miteinander verbunden.

      Das Yin und Yang des Selbstmitgefühls

      Wenn wir die Qualitäten untersuchen, die beim Selbstmitgefühl eine Rolle spielen, sehen wir scheinbar entgegengesetzte Eigenschaften, die sich auch ergänzen und voneinander abhängig sind, wie die Konzepte von Yin und Yang in der traditionellen chinesischen Philosophie. Das Yin des Selbstmitgefühls umfasst die Qualitäten des »Seins« mit uns selbst auf eine mitfühlende Weise: Wir trösten, beruhigen und wertschätzen uns selbst. Das Yang des Selbstmitgefühls spielt eine Rolle beim »Handeln« in der Welt: Wir schützen, versorgen und motivieren uns selbst.

      Yin:

       Trösten: Trost können wir einer lieben Freundin spenden, die in Schwierigkeiten ist, und wir können uns selbst trösten. Es bedeutet, für die Erfüllung unserer emotionalen Bedürfnisse zu sorgen.

       Beruhigen: Beruhigen ist eine weitere Art, uns selbst zu helfen, uns besser zu fühlen, insbesondere physisch ruhiger zu werden.

       Anerkennen: Anerkennen bedeutet, dass wir unsere Erfahrung klar verstehen, dass wir Worte für diese Erfahrung finden können und dass wir freundlich und liebevoll mit uns selbst sprechen können.

      Yang:

       Schützen: Der erste Schritt in Richtung Selbstmitgefühl ist das Gefühl, sicher und geschützt zu sein. Schützen bedeutet, Nein zu Menschen zu sagen, die uns verletzen, oder zu den Verletzungen, die wir uns selbst auf unterschiedlichste Arten zufügen.

       Versorgen: Versorgen bedeutet, dass wir uns selbst geben, was wir wirklich brauchen. Zuerst müssen wir wissen, was wir brauchen, dann Ja dazu sagen; und dann können wir versuchen, unsere Bedürfnisse zu erfüllen.

       Motivieren: Wir alle haben Verhaltensmuster, die uns nicht mehr dienen und die wir loslassen müssen; und wir haben Träume und Ziele, die wir verwirklichen wollen. Selbstmitgefühl motiviert wie ein guter Coach durch Ermutigung, Unterstützung und Verständnis – nicht durch harsche Kritik.

      Das Yin des Selbstmitgefühls hilft uns, das Kämpfen aufzugeben und einfach mit offenem Herzen für uns selbst da zu sein. Eine gute Metapher für Yin-Selbstmitgefühl ist eine Mutter oder ein Vater, die oder der ein weinendes Kind in den Armen wiegt. Wenn wir uns verletzt oder unzulänglich fühlen, können wir auf liebevolle Weise mit uns selbst Kontakt aufnehmen, unseren Schmerz anerkennen und uns als die annehmen, die wir sind. Das Yang des Selbstmitgefühls bringt seine Handlungsenergie ein. Eine gute Metapher ist »Mama-Bär«, die ihre Jungen bei Bedrohungen schützt oder Fische fängt, um sie zu füttern, oder ihnen darüber hinaus noch mehr zu geben bereit ist. Yang-Selbstmitgefühl kann beherzt und kraftvoll sein – wir ziehen Grenzen, sagen Nein, stehen für uns selbst ein. Wir setzen uns für die Erfüllung unserer eigenen emotionalen, physischen und spirituellen Bedürfnisse ein, wohl wissend, dass sie wichtig sind. Wir üben konstruktive Kritik, um Veränderungen anzustoßen, weil wir uns selbst »am Herzen liegen« und nicht leiden wollen, und nicht, weil wir fürchten, nichts wert zu sein.

      Die Frage ist: »Was brauche ich jetzt?« Manchmal müssen wir aufstehen und entschlossen in der Welt handeln, und manchmal müssen wir uns auf sanfte, liebevolle Weise uns selbst zuwenden. Oft brauchen wir beides. Als Selbstmitgefühl Praktizierende können wir die verschiedenen Qualitäten des Mitgefühls im Sinn behalten und weise entscheiden, was wann gebraucht wird. Es ist sehr wichtig, dass wir sowohl die beherzten und kraftvollen als auch die sanften Seiten des Selbstmitgefühls würdigen. Wenn die Yin- und Yang-Aspekte des Selbstmitgefühls ausgewogen und integriert sind, manifestieren sie sich als fürsorgliche Kraft. Stärke erreicht mehr, wenn sie fürsorglich ist, weil sie sich auf die Linderung des Leidens konzentriert. Das ist die Botschaft großer Vorbilder wie Gandhi, Mutter Teresa oder Martin Luther King jr., die auf mitfühlendes Handeln setzten, um gesellschaftlichen Wandel zu bewirken. Wir können diese Kraft auch nach innen richten, indem wir Yin- und Yang-Selbstmitgefühl einsetzen, um mit Schwierigkeiten fertigzuwerden, innere Stärke zu entwickeln und wahren Frieden und Glück zu finden.


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