Achtsames Selbstmitgefühl unterrichten. Кристин Нефф
äußere Umstände verantwortlich macht (»Der Test war nicht fair«) und schließlich aufgibt.
Alternativ könnten Sie einen mitfühlenden Ansatz wählen, indem Sie sagen: »Oh, schade, bestimmt ärgerst du dich jetzt. Komm, lass dich umarmen. So was passiert uns allen mal. Aber wir müssen versuchen, deine Englischnoten zu verbessern; denn ich weiß ja, dass du studieren möchtest. Was kann ich tun, um dich zu unterstützen und dir zu helfen, damit du es beim nächsten Mal besser machst? Du schaffst das schon.«
Beachten Sie, dass hier das Scheitern ehrlich benannt wird, Mitgefühl für den Schmerz des Sohnes ausgedrückt wird und die Ermutigung folgt, über dieses momentane Schlagloch auf dem Weg hinaus oder darum herumzugehen. Im Idealfall wird ihm diese Art der mitfühlenden Reaktion helfen, sein Selbstvertrauen zu bewahren und sich emotional unterstützt zu fühlen. Sie vermittelt auch das Gefühl der Sicherheit, das er braucht, um genau anschauen zu können, wo der Hase im Pfeffer liegt (vielleicht hätte er mehr lernen und weniger Videospiele spielen sollen), sodass er aus seinen Fehlern lernen kann.
Das ist sicher leicht einzusehen, wenn wir an einen gesunden Umgang von Eltern mit ihren Kindern denken, aber es ist nicht so einfach, diese Logik auf uns selbst anzuwenden. Wir sind fast süchtig nach unserer Selbstkritik, und auf einer bestimmten Ebene denken wir, dass der Schmerz hilfreich ist.
Selbstkritik wirkt in dem Maße als Motivator, in dem wir von dem Wunsch getrieben werden, im Falle unseres Scheiterns eine Selbstverurteilung zu vermeiden. Wenn wir aber wissen, dass das Scheitern eine Flut von Selbstkritik nach sich ziehen wird, kann das manchmal zu beängstigend sein, um überhaupt einen Versuch zu wagen. Deshalb gibt es einen Zusammenhang zwischen Selbstkritik und schwachen Leistungen oder Strategien der Selbstsabotage (Powers, Koestner und Zuroff, 2007). Wir benutzen Selbstkritik auch als Mittel, um uns durch Beschämung zum Handeln zu bewegen, wenn wir mit persönlichen Schwächen konfrontiert werden. Dieser Ansatz geht jedoch nach hinten los, wenn Schwächen nicht anerkannt werden, um Selbstzensur zu vermeiden (Horney, 1950). Mit Selbstmitgefühl wollen wir jedoch aus einem ganz anderen Grund etwas erreichen: einfach, weil es uns am Herzen liegt. Man könnte sagen, dass die Motivation hinter dem Selbstmitgefühl Liebe ist, während die Motivation hinter der Selbstkritik Angst ist. Wenn wir uns wirklich wichtig sind, werden wir Dinge tun, um uns glücklich zu machen, wie beispielsweise herausfordernde neue Projekte anzugehen oder neue Fertigkeiten zu lernen. Und weil Selbstmitgefühl uns die Sicherheit gibt, die wir brauchen, um unsere Schwächen anzuerkennen, werden wir in einer besseren Ausgangsposition sein, um sie zum Besseren ändern zu können.
Ein Weg zum Glücklichsein
Wie der im nächsten Kapitel vorgestellte Überblick über entsprechende Forschungsergebnisse zeigt, ist Selbstmitgefühl ein kraftvoller Weg, um Wohlbefinden und Zufriedenheit in unserem Leben zu erreichen. Indem wir uns selbst bedingungslose Freundlichkeit und Unterstützung geben und unsere Unvollkommenheiten als Teil des menschlichen Daseins akzeptieren, tragen wir dazu bei, schwierige psychische Zustände wie Depressionen, Angst und Stress zu lindern und gleichzeitig positive Zustände wie Glücksempfinden und Optimismus zu fördern (Zessin et al., 2015). Die nährende Qualität des Selbstmitgefühls lässt uns aufblühen und gedeihen und die Schönheit des Lebens schätzen – sogar in schwierigen Zeiten. Anstatt zu versuchen, das Leben und unsere emotionalen Reaktionen darauf zu kontrollieren, oder anstatt wütend und frustriert zu werden, wenn die Dinge nicht genau so laufen, wie wir es uns wünschen, können wir einen anderen Weg einschlagen. Wir können unseren unruhigen Geist mit dem Yin des Selbstmitgefühls beruhigen und auf die Yang-Kraft des Selbstmitgefühls zurückgreifen, damit wir die Herausforderungen, die auf uns zukommen, besser bewältigen können.
Selbstmitgefühl bietet eine Zuflucht vor der rauen See positiver und negativer Selbstbeurteilung, sodass wir endlich aufhören können zu fragen: »Bin ich so gut wie die anderen? Bin ich gut genug?« Das Glück des Selbstmitgefühls beruht weder darauf, besser zu sein als alle anderen, noch auf der Frage, ob unsere Bemühungen von Erfolg gekrönt sind. Das Glück des Selbstmitgefühls kommt daher, dass wir der Unvollkommenheit des Lebens und unserer eigenen Unvollkommenheit mit offenem Herzen und Geist begegnen.
Wir haben alles, was wir brauchen, um uns selbst mit jener warmherzigen, unterstützenden Fürsorge zu versorgen, nach der wir uns zutiefst sehnen. Wenn wir unsere tiefen inneren Quellen der Güte erschließen, die Erfahrung gemeinsamen Menschseins anerkennen und uns der Realität des gegenwärtigen Augenblicks öffnen, fühlen wir uns erfüllter und lebendiger. Selbstmitgefühl ist ein alchemistischer Prozess, der Leiden in Freude verwandeln kann. Wie unsere Kollegin Michelle Becker sagt, kristallisiert sich ein neuer Zustand heraus, wenn wir unseren Schmerz mit offenem Herzen annehmen – ein Zustand der »liebevollen, verbundenen Präsenz«, der den drei Elementen des Selbstmitgefühls entspricht. Vor allem, wenn sich die zärtliche, heilende Kraft des Selbstmitgefühls mit der leidenschaftlichen Entschlossenheit, Leiden zu lindern, verbindet, können wir inmitten von Herausforderungen und Veränderungen aufblühen.
Wichtige Punkte, an die wir uns erinnern sollten
Selbstmitgefühl ist nichts anderes als nach innen gerichtetes Mitgefühl. Wir können es in jedem Moment des Leidens, ob groß oder klein, anwenden.
Selbstmitgefühl umfasst im Wesentlichen drei Elemente: 1) Freundlichkeit gegenüber sich selbst im Gegensatz zu Selbstverurteilung, 2) die Anerkennung der Erfahrung des gemeinsamen Menschseins im Gegensatz zu Isolation und 3) Achtsamkeit im Gegensatz zu Überidentifikation.
Bei Achtsamkeit geht es um das liebevolle Gewahrsein der Erfahrung. Beim Selbstmitgefühl geht es um das liebevolle Gewahrsein der Erfahrenden.
Das Yin des Selbstmitgefühls bedeutet: auf eine akzeptierende Weise mit sich selbst zu sein – tröstend, beruhigend und den eigenen Schmerz anerkennend. Das Yang des Selbstmitgefühls bedeutet: handeln, um unser Leiden zu lindern – schützend, versorgend und uns selbst motivierend, wenn nötig.
Selbstmitgefühl und Selbstwertgefühl sind beides positive Wege, sich auf sich selbst zu beziehen, aber das Selbstwertgefühl beruht auf einer Evaluierung des eigenen Wertes, der an bestimmte Bedingungen geknüpft ist und auf Erfolg basiert, während Selbstmitgefühl bedingungslose Selbstakzeptanz auch in Momenten des Scheiterns impliziert.
Weitverbreitete Vorbehalte gegenüber Selbstmitgefühl können zerstreut werden:
Selbstmitgefühl ist weder egoistisch noch egozentrisch, sondern stellt uns die emotionalen Ressourcen zur Verfügung, die wir brauchen, um uns um andere kümmern zu können.
Selbstmitgefühl ist kein Selbstmitleid. Es lässt uns die Verbindungen zwischen unseren Erfahrungen und denen anderer ohne Übertreibung erkennen.
Selbstmitgefühl ist nicht schwach, sondern kann kämpferisch für Selbstschutz und Selbstunterstützung einstehen. Es ist eine Quelle der Kraft und Resilienz in herausfordernden Situationen.
Selbstmitgefühl bedeutet nicht, sich selbst alles durchgehen zu lassen, denn sein Ziel ist letztendlich die Linderung von Leiden. Selbstmitgefühl stellt langfristiges Wohlbefinden über kurzfristiges Vergnügen.
Selbstmitgefühl schließt konstruktive Kritik und Unterscheidungsvermögen mit ein, nicht aber harte, herabsetzende Selbstverurteilung.
Selbstmitgefühl stärkt die Motivation, statt sie zu untergraben. Anders als Selbstkritik motiviert Selbstmitgefühl eher durch Fürsorglichkeit, Unterstützung und Ermutigung als durch Angst und Scham.
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Die Wissenschaft vom Selbstmitgefühl
Wir leben in einer Zeit, in der die Wissenschaft bestätigt, was Menschen seit Jahrtausenden wissen: dass Mitgefühl kein Luxus ist.Es ist eine Notwendigkeit für unser Wohlbefinden, unsere Resilienz und unser Überleben.
Joan Halifax (2012b)
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