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      „Reine Neugier, Graf Lowls. Die Rituale der Pharasma sind die poetischsten, die ich je gesehen habe.“

      „Und ich nehme an, dass Ihr einiges darüber wisst“, warf Graf ­Muralt ein. „Ich meine, Ihr als chelischer Fürst müsst einige sehr außergewöhnliche Rituale gesehen haben.“

      Mir gefiel es nicht, wie er bei dem Wort „außergewöhnlich“ inne­hielt, auch wenn seine Äußerung noch nicht als Beleidigung aufgefasst werden konnte. Jeder in der Runde, selbst der beschränkteste Fürst, wusste, dass die Menschen in meiner Heimat Asmodeus verpflichtet waren, den wir den Fürsten des Rechts nennen. Die Verehrung des Fürsten der Lügen, unter welchem Namen er im Rest der Welt bekannt war, löste bei so gut wie jeder Person außerhalb von Cheliax Abscheu aus.

      Wenn man allerdings zugab, dass man ihn nicht verehrte, war es so gut wie sicher dass es in der Heimat zu gefährlichen Gerüchten kam, die zu verbreiten ohne Zweifel die Hauptaufgabe der jungen, neuen chelischen Botschafterin war.

      Lässt man einmal die Politik außer Acht, so habe ich es schon immer als heuchlerisch empfunden, Leute für die Verehrung des Herrn der Verdammnis zu verurteilen, während die eigene Nation die Herrin des Todes anbetete.

      „Ja, ich habe viele außergewöhnliche Rituale miterlebt“, sagte ich.

      Neska lächelte ob meiner mehrdeutigen Antwort. „Es ist doch so, dass Ihr im Auftrag der Kundschafter in Ustalav seid?“

      Ich hatte den Großteil des Abends darauf verwandt, dieser Frage aus dem Weg zu gehen, und langsam wurde ich der Jagd überdrüssig. „Ja“, antwortete ich.

      Die vier Männer erwarteten eine ausführlichere Darlegung, aber ich bot ihnen keine. Stattdessen zeigte ich zum Fenster. „Da ziehen sie hin“, sagte ich und nickte in Richtung der Nachtschwalben, „und nehmen das Geheimnis mit sich.“

      „Dann werdet Ihr ihnen sicher bald folgen“, sagte Senir. „Vielleicht wäre es das Beste. Schon von Alters her heißt es, die Geheimnisse von Ustalav würden lange schlafen und wütend erwachen. Ich würde Euch nicht wünschen, dass ihr Zorn über Euch kommt.“

      „Das einzige Geheimnis, das ich zu entschlüsseln gedenke“, sagte ich, „ist das einer vermissten Kundschafterin.“

      „Tatsächlich?“, fragte Senir. „Und dies ist eine Aufgabe für den erlauchten Grafen Jeggare? Ich dachte immer, Kundschafter würden ständig vermisst.“

      „Wohl wahr“, antwortete ich. „Aber diese wird gefunden werden. Sie gehörte zu mir.“

      „Gehörte?“ Er hatte meine unglückliche Verwendung der Vergangenheitsform bemerkt, die, wie ich Dir versichern kann, nicht meine Hoffnungen und Überzeugungen widerspiegelte. „Was kümmert es Euch dann, Jeggare?“

      „Nur ein Versprecher“, gab ich zurück.

      Senir musterte einen Moment lang mein Gesicht, als suchte er nach einem Anzeichen dafür, dass ich mehr wusste als ich zugegeben hatte. „Vielleicht habt Ihr andere Gründe, in unser Land zu kommen“, sagte er. „Wenn dem so ist, denkt an das Schicksal derjenigen, die sich an den Gräbern unserer glorreichen Vorfahren zu schaffen gemacht haben, jene, die gegen den Wispernden Tyrannen kämpften und jene, die seiner Verderbnis zum Opfer fielen. Nicht alle, die unter der Erde Ustalavs liegen, schlafen wohl. Ich gebe Euch mein Wort, mein Herr, als Ehrenmann, wie Ihr einer seid: Ihr tätet gut daran, sie nicht zu stören.“

      Bevor ich eine diplomatische Antwort formulieren konnte, legte sich eine Hand um meinen Arm. Ohne mich umzudrehen, erkannte ich unter einem leichten Hauch eines seltenen Parfums aus Kyonin den unnachahmlichen Duft der Gräfin Carmilla Caliphvaso. Ebenso wie an den Duft ihrer nackten Haut erinnerte ich mich an die Leidenschaft der Gräfin für alles, was elfisch war, darunter auch mein jüngeres Ich. Ich musste das Lächeln, das ich ihr schenkte, nicht einmal vortäuschen.

      Es war keine dichterische Übertreibung zu sagen, sie sei in über dreißig Jahren keinen Tag gealtert. Nur ganz wenig Puder bleichte ihr Gesicht und ihr Dekolleté, das selbst für die jungen Frauen, die dem Ball beiwohnten, gewagt war. Der Leberfleck auf ihrer Wange war ebenso falsch wie die weiße Perücke, die Kämme hielt, mit denen man einen Fürsten hätte freikaufen können, doch alles andere an ihr war genauso, wie ich mich aus den einhundert sinnlichen Nächten in Caliphas erinnerte, die ich damit zugebracht hatte, mir die Topografie ihres Körpers genau einzuprägen. Carmilla war die Frau, die mich in die weite Welt der feinsinnigen Liebe eingeführt hatte. Solltest Du dem Begriff „feinsinnig“ mehrere Bedeutungen beimessen – nun, dann ist es ein Beispiel für Deinen scharfen Verstand, und ich vertraue auf Deine Diskretion.

      Als wir uns zum ersten Mal begegneten, kam ich auf Grund ihrer Verführungskünste zu spät in meiner Winterresidenz nahe der Universität von Lepidstadt an, doch lernte ich in diesem Sommer mehr als in den vergangenen sechs Monaten des Studiums in den ältesten Bibliotheken Ustalavs. Zu der Zeit erschien sie mir älter als ich, obgleich ich in Wahrheit doppelt so alt war. Dennoch wirkte ich dank des Blutes meines Vaters wie ein junger Mensch in den Mittzwanzigern. Nun jedoch hatte mein Spiegelbild begonnen, mich mit der zerfurchten Straßenkarte, die mein Gesicht ist, zu verspotten, während Carmilla genauso gut ein dreißig Jahre altes Porträt von sich als Spiegel hätte hernehmen können.

      „Wie ich sehe, sind die Gerüchte, du würdest im Blut von Jungfrauen baden, nicht gänzlich aus der Luft gegriffen“, sagte ich. Es war einer von diesen unreifen Scherzen, die ich mir in meiner Jugend oft erlaubt hatte, doch sie schenkte mir ein Lächeln. Ich löste mich gerade lang genug aus ihrem Griff, um ihre Hand zu küssen.

      „Eine ungeheure Unterstellung“, sagte sie und verpasste mir einen Klaps mit dem Fächer aus geschnitztem Elfenbein, den ich ihr als Abschiedsgeschenk verehrt hatte und wiedererkannte. Seit meiner Ankunft in Caliphas war das Wetter kühl gewesen, sodass es keines ausgeprägten Scharfsinns bedurfte, um zu erkennen, dass sie mir schmeicheln wollte, indem sie das Präsent zur Schau stellte. Sie ließ den Fächer von ihrem Handgelenk baumeln, während sie mit einem Finger gegen Senirs bestickten Ärmel tippte. „Dennoch hat mich unser Bischof hier stets im Auge, wenn wir zu Abend essen, und sorgt dafür, dass ich jedes mit Knoblauch zubereitete Essen koste.“

      Senir verbeugte sich knapp ob ihrer Stichelei und lächelte ohne jede Belustigung.

      „Ihr könnt unseren Besucher nicht ganz allein für Euch beanspruchen, mein lieber Bischof“, sagte Carmilla und ignorierte unbekümmert den Rest unserer Gesellschaft, ohne deren Ärger auf sich zu ziehen. Ich kann nicht verstehen, wie sie zu diesem Kniff imstande ist, obwohl ich sie des Öfteren dabei beobachtet habe. „Es gibt Dutzende junger Leute, die unseren werten Grafen Jeggare noch nicht kennengelernt haben, und wir sollten ihnen die Bekanntschaft mit ihm nicht verwehren.“

      Es ist ein Glück, dass ich durch beinahe ein Jahrhundert der Übung in der Lage bin, meine Heiterkeit zu verbergen, denn Senirs Blick war scharf und prüfend. Ich sah in seinen Augen die Erkenntnis, dass ich gerettet worden war – und ich wusste, dass es stimmte. So lächelten wir uns arglos an, als ob wir keine solchen Gedanken hegen würden. Die anderen in unserer Runde lächelten gleichermaßen, abgesehen von dem ungehobelten Lowls, der mit etwas herausplatzte, das klang, als wolle er ein Treffen mit mir vereinbaren, damit ich mir seine Zeichnungen ansah. Dann jedoch lenkte seine kluge Geliebte ihn ab, indem sie verlangte, zurück zum Dessertbuffet zu gehen.

      Während Carmilla mich von ihnen fort geleitete, beschaffte ich mir von dem Tablett eines Dieners zwei Gläser süßen Weins. Eine Weile gingen wir schweigend, und sie hielt meinen Arm so nahe und drückte ihren warmen Körper so sanft an mich, dass ich ein Wiederaufflammen der Zuneigung verspürte, die wir einst geteilt hatten. Oder zumindest der Zuneigung, die ich einst verspürt hatte. Man konnte nicht verhehlen, dass ich nicht nur jung, sondern auch, wie man so sagt, beeinflussbar gewesen war, und nur ein Narr würde annehmen, die erfahrene Dame hätte so viele Gefühle in mich investiert wie ich in sie. Es war ein gefährliches und unergiebiges Gefühl, doch eine Minute lang genoss ich es, während wir an den Porträts der Fürsten und Grafen vorbeischritten, jedes eine Generation älter als das vorangegangene. Ich stellte sie mir als eifersüchtige Rivalen vor, die uns um unser


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